Unterwegs

Abtauchen in die vierte Dimension

Von
Shannon Hughes

Psychoautomatischer Piano-Pilot: Nicolas Streichenberg

Unterwegs mit Nicolas Streichenberg

An der Zürcher Hardbrücke geht es drunter und drüber. Auto­bahn, Trams, Passant*innen und Busse tummeln sich an diesem Hotspot zwischen Banken­ und Kulturwelt. Der Prime Tower und der Freitag­Containerturm ragen beide in den Himmel hoch, als wäre es ein Wettbewerb. Hier fühlt man sich schnell klein – und dennoch Teil eines grossen Ganzen. Dieser Ort vibriert förmlich, ähnlich wie der Künst­ ler Nicolas Streichenberg alias Yes It’s Ananias, den ich hier treffe.

In der Geroldstrasse, die mit einem Vintage­ Fotoautomaten beginnt und in einem Viadukt endet, befindet sich ein kultiger Hutladen, voller Risa­-Hüte aus Häggligen. Als ich den Laden betrete, fühle ich mich in eine andere Welt versetzt. Nicolas Streichenberg, ganz der Verkäufer, begrüsst mich herzlich. Der Musiker, der sich als Yes It’s Ananias der «psychoautomatischen» Pianoimpro­ visation verschrieben hat, ist seit drei Tagen von seiner Mexiko­Tour zurück. Von Kopf bis Fuss steckt er in einem knallig roten Outfit und fällt damit im grauen Grossstadt­ gemisch etwas mehr auf. Heute schaue ich ihm im Laden über die Schulter, seit 2016 ist er hier im Einsatz.

«An ‹Kleider machen Leute› ist eben was dran.» Als wir uns zum Kaffee vor den Laden setzen, brennt die Sonne auf den Vorplatz runter. «Warte, du könntest Grös­se 57 haben, oder?», fragt Nicolas und rennt in den Laden. Noch bevor ich antworte, setzt er mir einen passenden Strohhut auf den Kopf. «Jetzt bist du ausgestattet», lacht er. Hüte, meint der Künstler, sollten immer eine positive Cha­rakter­Erweiterung sein. Bei seinem extravaganten 70er­-Jahre Kleidungsstil sieht er es genauso. «An ’Kleider machen Leute’ ist eben was dran», schmunzelt er.

Nicolas kommt direkt aus einem Land der satten Farben, Mexiko. Der Künstler war gerade acht Tage dort und hat sechs Konzerte gespielt. Sein viertes Studioalbum «Yes It’s Ananias IV: Turbulences After the Crash Landing into the Fourth Dimension» hat er bereits 2022 ebenda aufgenommen. In der 1.9­-Millionen-­Stadt Guadalajara im Bundesstaat Jalisco hat Nicolas zusammen mit dem Produzenten Willy Gonzáles innerhalb von zwei Tagen improvisiert und aufgenommen. Mexiko inspiriert den Künstler ungemein: «Jeder Tag dort ist eine Inspiration», erzählt er. «Mexico schwingt auf einer anderen Ebene.» Auf seiner Tour durch das Land ist Nicolas besonders die hohe Wertschätzung der Kunst aufgefallen. Begeistert zeigt er mir Fotos einer Galerie und deren Sammler und einer riesigen Konzerthalle, in der er in Mexico City spielen durfte. «Die Menschen hören viel genauer zu dort», er­ innert sich Nicolas. Ganz ange­kommen aus dieser vielschichtigen Reise scheint er noch nicht.

Sein viertes Werk, «durch und durch ein Konzeptalbum» handelt kurz gesagt von dem Durchbruch in die vierte Dimension. Die LP beginnt mit einer Durchsage eines Piloten, der sich über die Laut­ sprecher für eine Flugverzögerung entschuldigt. Grund für die Verzögerung sei ein technischer Fehler in der Lautsprecheranlage gewesen. Schaurig ähnlich er­ lebte es Nicolas auf seinem letzten Flug nach Mexico. Während des Flugzeugstarts in Zürich musste der Flug wegen eines Motordefekts abgebrochen werden. Über eine halbe Weltreise, die unter anderem über Istanbul, Kiew und Chicago führte, erreichte Nicolas dann Mexico City. Die Worte des Piloten beim verhinderten Abflug in Zürich – «We’ve got some high vibrations» – brachten für ihn Realität und Kunst zusammen.

Für Nicolas fungiert Musik als Portal. Da sich der Pianist auf die Improvisation spezialisiert hat, fliesst die Inspiration durch ihn auf die Tasten. Er nennt seine Art zu spielen «psychoautomatisch». Er würde bewusst seiner Intuition nachgehen: «Das Hirn schaltet nie ab.» Diese psychoauto­matische Methode hat Nicolas auch fürs Schreiben verwendet. Auf einer Europa­-Tour mit der finnischen Musikerin Paula Präktig hat Nicolas Gedichte geschrieben. Er hörte sich seine Lieder an und schrieb im Bewusstseinsstrom lyrische Prosa dazu. «Danach habe ich sie weder angepasst noch angeschaut», meint er. Die Texte sind nun bei seinem Vinyl dabei und gehören zum «Yes It’s Ananias»­Album dazu.

Die Liebe zum Pianospiel entdeckte Nicolas, als er in Winterthur regelmässig in einem schicken Restaurant spielte. Durch das viele Performen entstand auch der Mut zur Im­provisation. Seine vier Studioalben hat Yes It’s Ananias seriell gehalten. 2013 startete er mit dem selbstbetitelten Debüt­album, danach erhielt jedes Oeuvre eine entsprechende Zahl. Mit den seriellen Alben schaffe er ein «Lexikon des Lebens», verrät mir Nicolas unter der Sonne.

Die Bühne ist der Ort, wo Nicolas’ Improvisationen sich ganz entfalten können. Jedes Konzert, ob vor hundert oder sieben Menschen, ist wichtig für ihn und hat einen Einfluss auf seine Aufnahmen. Seine Musik mit dem Publikum zu teilen, ist für den Künstler unglaublich intim und spirituell. «Ich werde immer wieder auf der Bühne entjungfert», sagt er. Auf einer Bühne zu stehen, versteht Nicolas als Privleg. Sein Auftrag ist es, mit dem Publikum zu arbeiten: «Eine Performance besteht nur zu fünfzig Prozent aus der Person auf der Bühne, der Rest ist das Publikum.» Yes It’s Ananias’ Ziel ist es, Leute mit seiner Musik auf­ zuwecken und aus der Bahn zu werfen. Als ich mich von Nicolas verabschiede und wehmütig den schönen Strohhut im Laden lasse, scheint mir die Sonne etwas stärker ins Gesicht als zuvor. Am Himmel zeichnen sich kreuz und quer Flugspuren ab.