Das Theater Marie thematisiert in seinem neuen Stück die Versicherungsmentalität, basierend auf Aussagen aus der Branche – ein Abend, der sich heiter ins Abstruse dreht.
Für nahezu jeden Bereich des menschlichen Lebens gibt es Versicherungen. Den obligatorischen Kranken- und Unfallversicherungen steht ein ganzer Reigen von Zusatzangeboten gegenüber. Von der Smartphone-Versicherung über Vollkasko oder Teilkasko für das Auto bis hin zu den Reiseversicherungen, die alle erdenklichen Urlaubsrisiken aufzufangen versprechen – sei es der mögliche Flugausfall, eine Magenverstimmung durch herausgeforderte Essgewohnheiten oder gar das schlechte Wetter. Hundert Franken Rückerstattung pro Regentag im Sommerurlaub garantiert etwa die Schönwetterversicherung eines grossen Schweizer Anbieters.
Die Autorin und Regisseurin Maria Ursprung widmet sich dem Phänomen der Versicherungen in ihrem neuen Theaterstück «Höhere Gewalt». Am Anfang ihrer Arbeit stand eine Recherche, die massgeblich aus Interviews mit Mitarbeiter*innen der Schweizer Versicherungslandschaft bestand. Aus den Gesprächen mit Makler*innen, Kundendienstleistern und einem Versicherungsdetektiven entstanden erste Ideen und Texte, die als Ausgangspunkt für die Proben mit dem Ensemble – zwei Schauspieler*innen und einem Perkussionisten – dienten. Daraus resultierte ein Stück, in dem unterschiedliche Figuren auftreten, um eine neue Versicherung abzuschliessen.
Konflikte sind vorprogrammiert und entzünden sich etwa daran, dass ein Kunde unter einer Todesfallversicherung ein Versprechen auf ewiges Leben versteht. Oder daran, dass die Frau, die eigentlich ihr Fahrrad versichern wollte, sich vom Versicherungspersonal zu einer Haustierversicherung überreden lässt – und kurz darauf das frisch versicherte Tier unglücklich verendet. Fast scheint es den beiden Versicherungsvertreter*innen Grawit und Bürgin, dass ihre Produkte das Unheil geradezu heraufbeschwören, anstatt es zu neutralisieren.
Mit viel Witz und Kurzweiligkeit wird in «Höhere Gewalt» der graue bürokratische Versicherungsapparat als grosse Absurdität auf die Bühne gefahren und in seiner Beispielhaftigkeit für die vorangeschrittene Ökonomisierung aller Lebensbereiche ausgestellt. Denn eine Versicherung besteht letztlich aus nichts Weiterem als einer Kostenrechnung der Eventualitäten, die der Lebensvollzug in sich birgt. «Wer gibt dem Risiko einen Preis? Das macht die Versicherung. Und dadurch wird es handelbar. Ist das nicht wunderbar?», heisst es an einer Stelle im Stück. Ferner wird deutlich, dass die risikoabwägende Versicherung eine Form der Entzauberung der Welt betreibt.
Die statistisch operierende Wahrscheinlichkeitsrechnung, in der jedes mögliche Szenario durchdekliniert, erfasst und bepreist wird, verleiht dem Unvorhersehbaren eine Determiniertheit in Form von Zahlen und Nummern. Und so stellt sich die Frage, wo sie denn eigentlich zu finden ist, die «Höhere Gewalt»? Im Schicksal, dem wir ausgeliefert sind, und vor dem wir uns durch eine Schönwetterversicherung schützen müssen? Oder doch eher im Versicherungswesen selbst, das unser Leben auf Ökonomisierung und Berechenbarkeit bürstet?