Unterwegs

Ankunft bei sich selbst

Von
Shannon Hughes

«If it doesn’t feel right, what’s the purpose?»: Marlene Diallo aka Marlin. sh

Unterwegs mit Marlin

Der Frühling ist in vollem Gange, als ich im Zug durch die Felder des Freiamts fahre. Die Sonne bemalt die Ländereien so, dass sie im besten Licht erstrahlen. In Muri steige ich aus. Hier wohnt die 23-jährige R&B-Musikerin Marlin, die bürgerlich Marlene Diallo heisst. Als ich die Treppen des Bahnhofs hochgehe, steht das Auto von Marlene schon be reit. «Ich dachte, wir fahren hoch zum Wald», meint Marlene. Dort gehe sie immer spazieren.

Marlin kenne ich seit ziemlich genau zwei Jahren. Im Rahmen ihrer Förderung durch das Jugendkulturprogramm Kulturdünger haben wir uns zum Interview im Radiostudio in Aarau getroffen. Ihre erste Single «More» war gerade rausgekommen, ein lebensfrohes Musikvideo hatte sie gleich dazu gedreht. Schon zu Beginn merkte man Marlin an, dass sie einen eigenen Kopf und viel Attitude mitbringen würde. «Was für ein solides Debüt du damals gemacht hast,» sage ich zu Marlin. Zuerst nickt sie verlegen, dann lächelt sie: «Ja, stimmt schon.»

Wir verlassen nach einer kurzen Fahrt den Dorfkern von Muri und fahren hoch Richtung Wald. Marlin zeigt mir im Vorbeifahren das Haus, in dem sie lebt und an ihrer Musik arbeitet. «Da habe ich mein eigenes kleines Reich und werde nicht abgelenkt», sagt sie. In Wohlen aufgewachsen, wohnt sie inzwischen mit ihrer Familie im Haus ihres Gross vaters in Muri. So ländlich aufzuwachsen, hat Marlene sehr geprägt: «Die Menschen hier sind gemütlicher als in der Stadt.» An der Stadt schätze sie den Tatendrang, da stosse sie auf Gleichgesinnte. Auf dem Land zu leben, schaffe für Marlene eine nötige Balance dazwischen.

Wir steigen aus dem Auto und tauchen in den Wald ein. Vogelgezwitscher und Sonnenstrahlen kommen uns ent gegen. Fast zu schön, um wahr zu sein. Marlene geht voran und erzählt von der Zeit, die sie in ihrer Jugend hier ver bracht hat. Wie ihre Familie hier grillierte und ihr Hund in einem kleinen Weiher badete. Wir haben aber ein weiteres Ziel: den grossen Weiher in der Mitte des Waldes. «Es ist ein bisschen steil, aber das lohnt sich, wenn du oben bist.» Ziemlich steil ging es auch bei Marlin in den letzten zwei Jahren hoch: Bisher hat die R&B-Sängerin acht Singles und zwei Musikvideos veröffentlicht, zahlreiche Konzerte gespielt und arbeitet mit einem Management sowie einem Booking zusammen. Auf Instagram folgen ihr über 3000 Menschen – kein Wunder, denn Marlin hat eine sehr farbenfrohe Präsenz auf der Plattform aufgebaut. Gerade im letzten Jahr habe sie sich bemüht, sich nicht mehr zu verstellen, dem Bild einer Musikerin online zu ent sprechen. Mit ihrem früheren Content kann sich Marlin nicht mehr ganz identifizieren.

«Ein Freund hat mich darauf aufmerksam ge macht, dass meine Social-Media-Inhalte etwas komisch und gestellt wirken.» Auf meine Frage, ob das Content-Kreieren für sie sozusagen ein zweiter Job neben der Musik ist, schüttelt Marlin den Kopf. Viele ihrer Bilder und Videos würden während dem Musikmachen ent stehen, beim Schreiben von Songs oder bei Shows etwa.

Marlins kreative Ader wurde schon früh durch ihre Familie gefördert. Sie begann in einer Gruppe Hip-Hop zu tanzen und nahm Gesangsunterricht. Mit 18 fing sie an, mit Gabiele Graziano alias Gabiga Musik aufzunehmen. Mit dem Pro duzenten, der auch mit Schweizer Grössen wie Naomi Lareine und Benjamin Amaru zusammengearbeitet hat, verbindet Marlin seit der Schulzeit eine Freundschaft.

Inzwischen sind wir oben beim Weiher angekommen, setzen uns hin und geniessen das kleine Idyll. Marlin wirkt entspannt und besonnen, obwohl sich gerade so viel in ihrer Musikkarriere tut. Ihr sei es wichtig, auf allen Ebenen gesund zu sein, auch in ihren Ambitionen. Seitdem Marlin Musik herausgibt, sei sie auf der Suche nach ihrem Brand – also das, was sie als Künstlerin ausmacht. Gefunden habe sie ihn in sich selbst. «Lustigerweise ist es die Musik, die ich am liebsten höre und am Anfang gemacht habe, der R&B.» Das Musikmachen komme jetzt natürlicher, weil es kein Aus probieren mehr sei. Ihre nächsten Songs und ihre EP würden «von innen kommen». Aktuell würde besonders ihre Gitarre beim Songwriting sie inspirieren. Immer wieder fällt Marlin eine Zeile ein, die sie in einem unveröffentlichtem Song geschrieben hat: «If it doesn’t feel right/What’s the purpose?» Nachhaltig möchte Marlin ihr Musikschaffen gestalten, damit sie auch bereit sei für alles. Lange wollte sie Fans für ihre Musik gewinnen. Auch hier hat sie gemerkt, dass das gar nicht nötig ist. Ihre Musik finde ein Publikum und könne nicht allen gefallen. Dennoch will Marlin ihr Leben lang Musik machen, davon leben können, ganz oben stehen: «Ich muss kein Drake sein, aber wenn ich ein Drake werde, dann sage ich nicht nein.»

Als wir den Wald verlassen, bleiben wir beide noch kurz stehen. Von hier sind die schneebedeckten Berggipfel im Osten zu sehen. Marlin atmet ein und aus. «Hier habe ich wirklich alles.» Ihr Terminplan nach unserem Treffen ist schon voll. Am Abend spielt sie in der Roten Fabrik in Zürich ein Konzert, als Support von Nativ und Pablo Nouvelle. Danach geht es für Marlin nach Zermatt, wo sie an der Mountain Academy des Zermatt Unplugged Festivals teil nimmt. Dort werden Newcomer*innen gefördert und erhalten einen Showcase. «Ich war noch nie in Zermatt», schmunzelt Marlene Diallo. Als wir ins Auto steigen, wünsche ich Marlin noch tausend solche ersten Male.

ZUR PERSON

Marlene Diallo (*2001 in Muri AG) wuchs in Wohlen auf. Sie hat Wur zeln in der Schweiz, Ungarn und Guinea. Als Marlin macht sie Musik und arbeitet daneben in der Gastronomie. Ihre neue Single «Rainy» erscheint im Mai.