Unterwegs mit dem L‘actif post-helvetia.
Lara und Germaine schlagen vor, dass wir uns in der Badener Parkkapelle treffen. Obwohl ich seit Jahren in der Stadt wohne, muss ich das Internet nach dem Ort befragen. Die unscheinbare Kapelle steht an der Kreuzung zwischen dem Kurtheater und dem Hotel Du Parc und wird von den Gebäuden der Nachbarschaft fast verschluckt. Eine Angestellte der Kirchgemeinde schliesst uns die Tür auf – die Kapelle öffnet nur für Anlässe und Vermietungen.
Wir setzen uns auf die Empore, neben die Orgel. Sie hätten das Instrument bei ihrem allersten Besuch für sich entdeckt und kamen in der Folge immer wieder, sagt Germaine und drückt eine Taste. Dieses erste Mal, das war ein Zufall vor einigen Jahren. Germaine und Lara hatten zum Proben in Baden abgemacht, ohne konkreten Plan. «Irgendwas mit Musik, das wussten wir», sagt Lara. Da es regnete, suchten sie kurzfristig einen Raum und kamen unverhofft an den Schlüssel zur Kapelle. Der Ort inspirierte sie unmittelbar. «Geschichtlich ist die Orgel ja immer mit religiösen Inhalten verbunden. Wenn du sie jedoch aus diesem Kontext herauslöst, ist sie einfach ein Instrument mit faszinierender Technologie. Und der Raum eine eindrückliche Soundkulisse.»
Wie lassen sich Symbole neu besetzen? Wie lässt sich die Klaviatur der Symbolik spielen und sie gleichzeitig als solche sichtbar machen? Und was bedeutet das eigentlich emotional und politisch, wenn Sinnbilder in uns diese reflexartigen Gefühle hervorrufen? Oder wie Germaine während des Gesprächs einmal fragt: «Warum geht mir das Herz auf, wenn ich in den Bergen bin und Alphornmusik höre, obwohl ich absolut null Bezug dazu habe?» Mit diesen Fragen beschäftigt sich das junge Kollektiv «L’Actif Posthelvetia», welches die Künstlerin, Autorin und Theatermacherin Deborah Lara Schaefer (27) und die Schauspielerin Germaine Sophie Sollberger (27) vor zwei Jahren ins Leben riefen und ein Gefäss für Theaterstücke, genauso wie für musikalische Performances oder Essays sein soll.
Diese Neugier, vor allem aber das Misstrauen gegenüber affektiven (Heimat-)Gefühlen konfrontieren sie aktuell mit dem Stück «Die Nation», welches hier in Baden entwickelt und vor einigen Wochen im Theater ThiK zum ersten Mal gezeigt wurde.
Für beide ist das Stück auch eine Rückkehr: In Baden wachsen Germaine und Lara in den Nullerjahren auf, in einer Zeit, als die SVP das Land mit nationalidentitären Initiativen eindeckt und die ultimative Deutungshoheit darüber zu haben scheint, wer und was zur Schweiz gehört. «Für mich sind da zum ersten Mal diese Fragen aufgetaucht: Wer darf hier sein und warum?», sagt Lara.
Die beiden begegnen sich während der Schulzeit, besuchen gleichzeitig die Bezirksschule Baden und später die Kantonsschule Wettingen, wo sie dem Theaterverein beitreten. Noch aber sind sie eher friends von friends, und noch bevor sich ihr Kontakt zu einer richtigen Bekanntschaft auswächst, sind beide erstmal weg: Germaine studiert Schauspiel in Bern, Lara literarisches Schreiben in Biel. Ihr gemeinsames Interesse für die freie Szene führt sie jedoch bald wieder an die gleichen Orte. Und ein paar Zufälle später in eine erste gemeinsame Residenz. In St. Gallen hüten sie das Haus einer Bekannten, sie giessen die Pflanzen, entdecken Trachten im Kleiderschrank und beginnen über Vereine zu diskutieren. Dabei entsteht der Rahmen für ihr erstes gemeinsames Theaterstück. In einer alten Scheune, ausgestattet mit Festbänken und Hebebühne, inszenieren sie die Gründungsversammlung des Vereins «Der Verein». An den Wänden hängen Schweizerfahnen mit rot ausgemaltem Kreuz, die Tische sind feierlich gedeckt, zwischen Traktandenliste und Finanzbericht gibt es Wurst und Brot. Germaine und Lara machen den Verein erfahrbar als durchritualisiertes Konstrukt mit identitätsstiftender Funktion: Er lässt seine Mitglieder zu Kompliz*innen werden, kreiert ein formales Innen und Aussen. «Mich interessiert das Politische daran», sagt Lara. «Wann beginnen Gruppen exklusiv zu werden und Leute auszuschliessen? Und wie passiert das?»
Ihr jüngstes Stück «Die Nation» stellt die Fragen nach Zugehörigkeit, gesellschaftlicher Teilhabe und Identität noch vehementer – und denkt sie intersektional. Situiert in einer Sauna, in der das letzte Gletscherwasser über die heissen Steine gekippt wird und sich das Klima zusehends erhitzt, verwebt das Kollektiv Kapitalismuskritik, feministische Theorie, Klimapolitik und identitätspolitische Fragen. Im Stück emanzipiert sich Helvetia, die Identifikationsfigur der Eidgenossenschaft, vom Zweifränkler, in dem sie lebt. Helvetia beschliesst, eine Volksinitiative zu lancieren. Sie will die Schweiz mittels direkter Demokratie abschaffen. Oder positiv gewendet: Die Voraussetzungen schaffen für eine posthelvetische Schweiz – für eine Gesellschaft jenseits nationaler Grenzen und diffuser patriotischer Symbolik. «Es soll aber nicht nur eine politische Auseinandersetzung mit der Schweiz sein, sondern auch eine emotionale», sagt Germaine. Und Lara ergänzt: «Man muss aber schon gut mit seinen emotionalen Säften umgehen». Das sei ihr beim Schreiben der Helvetia-Figur bewusst geworden. Revolutionsrhetorik werde gerade vielerorts überstrapaziert und habe, wie Brasilien oder die USA zeigten, verheerende Konsequenzen für das Zusammenleben. Es sei ihnen wichtig, mit ihrem Stück nicht in diese Kerbe zu hauen. Vielmehr soll es darum gehen, das Bild einer gesunden direkten Demokratie als romantisiert zu entlarven, so lange in diesem Land Wohlstand derart ungleich verteilt, das Mitbestimmungsrecht für viele Gruppen eingeschränkt und Chancengleichheit insgesamt eine Farce ist. Von kolonialen Verstrickungen ganz zu Schweigen.
Germaine Sophie Sollberger, 27, wohnt in Giessen (DE), wo sie als Schauspielerin beim Ensemble des Stadttheaters engagiert ist.
Deborah Lara Schaefer, lebt in Ins (BE) und Villach (AU). Im März erscheint ihr zweisprachiger Erzählband LIBIDO LUCID bei Label Rapace; die Erzählungen basieren auf Träumen.