Das offene Objekt

Das Geheimnis der Zeit: chronos und kairos

Von
Rudolf Velhagen

In unserer modernen Gesellschaft jammern viele Mitmenschen immer wieder darüber, dass sie zu wenig Zeit haben oder dass die Zeit so schnell vergeht: Sie lassen sich vom Zeitdruck auspressen.

Es mag hier hilfreich sein, zu wissen, dass die Griechen der Antike zwei Worte für die Zeit hatten: chronos und kairos. Chronos war der Urgott, der seine Kinder auf­ frass. Und so ist auch chronos die Zeit, die uns auffrisst: Es ist die hektische Zeit, die Zeit, die uns pausenlos antreibt und durch den Tag hetzt. Das deutsche Wort «hetzen» kommt von «hassen»: Die den Alltag bestimmende chronos­Zeit ist somit eigentlich die Zeit des Selbsthasses. Dem negativ konnotierten chronos setzen die Griechen den Begriff kairos entgegen, welcher die «erfüllte Zeit» be­ zeichnet. Es war für die Griechen eine heilige Zeit, in der das Göttliche herrscht und nicht der Mensch.

Ob ich die Zeit als chronos oder als kairos wahrnehme, liegt letztlich an mir. So wird die Zeit chronos, wenn ich sie als Feind sehe, den ich möglichst besiegen muss. Viele ver­ suchen deshalb ein gutes Zeitmanagement zu erlernen. Managen kommt vom lateinischen manus («Hand»). Es meint also ursprünglich, die Zeit in die Hand zu nehmen. Doch die Zeit lässt sich nicht besitzen, sie lässt sich nur erleben. Und das gelingt aus meiner Sicht einzig, wenn ich die Zeit als kairos lebe. Kairos ist die Zeit, wenn ich ganz im Augenblick bin: Es ist jetzt nichts wichtiger als genau dieser Augenblick, in

dem ich gerade mit jemanden spreche, jemandem zuhöre oder schreibe, lese, arbeite (heute verwendet man dazu gerne den Ausdruck «Im Flow sein»). In einer auf Effektivität und Multitasking ausgerichteten Welt er­ achte ich es als grundlegend, in einem ersten Schritt Freiräume zu schaffen, in denen ich

die Zeit anders erlebe. Die erlebten kairos­Momente sind schliesslich nicht nur eine ge­ segnete Zeit für mich, sondern auch für mein Umfeld: Der Satz, dass ich nicht wirklich zuhöre oder nicht wirklich anwesend bin, wird nicht mehr fallen. Wann haben Sie sich das letzte Mal in irgendein Buch vertieft und heilige kairos-Augenblicke erlebt?

Rudolf Velhagen, Chefkurator bei Museum Aargau, erkundet an dieser Stelle die verborgenen Botschaften der Dinge. Nicht weniger als 55 000 historische Ob­ jekte aus der kanto nalen Sammlung war ten auf ihre Befragung.

Abb.: Felix Hoffmann, Joggeli wott go Birli schüttle, Verlag Sauerländer, Aarau, 8. Auflage 1990 (Erstauflage 1963), Sammlung Museum Aargau, Inv.-Nr. K-20366, Fotografie: R. Velhagen. (RV/25.4.2024)