Ausstellung

Das Gleichnis der Venus

Von
Michael Hunziker

Venus-Perfomance von Pearlie Frisch und Elisa Bruder.

Im Kloster Muri läuft derzeit eine Schau der Superlative. Über 60 Künstler*innen zeigen ihre Auseinandersetzung mit der Venus. Wir haben uns mit der Schaumgeborenen auf Tuchfühlung begeben.

Die bald 1000-jährige Geschichte des Klosters Muri wird bis heute über männliche Figuren erzählt, über Mönche und Äbte. Frauen gab es damals nicht. Moment... das stimmt natürlich nicht. Das Kloster war kurz nach seiner Gründung sogar ein Doppelorden und auch später, als nach etwa hundert Jahren der Frauenkonvent in Hermetschwil gegründet wurde, wäre die Geschichte des Klosters Muri in der Verbindung zum Frauenorden zu lesen und zu verstehen. Historisch gesehen besteht also eine ziemliche Leerstelle. Diese nimmt das Kurator*innen-Duo Brigitt Bürgi und Peter Fischer zum Anlass, um mit den Mitteln der Kunst das Dunkel imaginativ und assoziativ auszuleuchten. In die Leerstelle setzten sie symbolisch die mythologische Figur der Venus – sie luden mit einem Open Call Kunstschaffende aus der ganzen Schweiz ein, sich auf eine Spurensuche nach ihrer persönlichen Venus von Muri zu begeben. «Die Venus von Muri ist auch für uns eine Unbekannte», erzählt Brigitt Bürgi. «Durch den offenen, partizipativen Zugang wird die Ikone demokratisiert. Die verschiedenen Arbeiten eignen sich das Symbol in einer selbstermächtigenden Geste an und laden es mit Bedeutungen auf.»

Zusammengekommen sind über 60 Positionen, die mit allen Medien der Kunst, von Videoinstallationen über skulpturale Arbeiten, Malerei bis zu Performances starke inhaltliche Perspektiven eröffnen. Die Venus hat nun mitunter monströse Züge, ist vielleicht als Amazone das fleischgewordene Zerrbild männlicher Fantasie, wie sie in der Arbeit von Pearlie Frisch anzutreffen ist. In einer fiktiven Ahninnengalerie von Kathrin Bänziger sind die Frauen die Klostervorsteherinnen. Spätestens mit Bänzigers Fiktion, die sie das Prinzip Venus nennt, kommt auch die männerdominierte Geschichtserzählung ins Bröckeln. Denn zwei zentrale Figuren, ohne die das Kloster heute nicht das wäre, was es ist, waren Frauen: Vor über 1000 Jahren stiftete Ita von Lothringen das Kloster und die letzte Kaiserin von Österreich, Zita von Habsburg-Lothringen pflegte im 20. Jh. eine enge Beziehung zu Muris Wahrzeichen. Ihr Herz und das ihres Gatten sind bekanntlich in der Klosterkirche beigesetzt (die Körper der beiden liegen in Wien). Die Herzen werden auch in der Ausstellung zu einem wiederkehrenden Motiv, etwa in den Werken von Irene Näf, Barbara Hennig Marques und bei Klodin Erb. Sie lösen das Symbol aus seinem aristokratisch-christlichen Hintergrund heraus und machen es sinnlich erfahrbar.

«Nach 1000 Jahren kommen endlich die Frauen ins Kloster», sagt Peter Fischer, und das ist auch etwas augenzwinkernd zu verstehen, denn die gezeigte Schau verfängt sich in ihrer Vielfalt gerade nicht in essentialistischen oder in binären Logiken, wie alt und jung, Frau und Mann, schön und hässlich. «Die Arbeiten zeigen uns auf, welchen Beitrag Kunst für uns leisten kann, was sie uns über unser Leben und unser gemeinsames Dasein zu sagen vermag.» Und das ist ziemlich befreiend. Über dem Eingang der Schau steht in poppigen Neonlettern von Michaela Allemann programmatisch geschrieben: «Ecce Venus». Das ist die Venus, das ist der Mensch. Vielfältig, individuell, verletzlich und ambivalent – und sich darin gleich.

Pearlie Frisch

Wildes Monster

Etwas Metaphysisches hat sich in der Badi Muri ereignet: Eine Venus ist geschlüpft, ist quasi aus der Sphäre der Ikonen in die Dimension des Körperlichen eingetreten. Oje, und siehe da, aus der idealisierten, normativ-enthobenen Schönheit ist ein monströses, animalisches Wesen geworden. «Meine Figur ist keine göttliche Geburt aus dem Schaum des Meeres», sagt Künstlerin Pearlie Frisch (*1986, lebt in Zürich) zu ihrer Kreation. Ihre Venus (Performance: Elisa Bruder) bewegt sich auf dem Grund des leeren Schwimmbeckens ekstatisch, ja befreit von vergangenen Zuschreibungen durch die Videoinstallation. Vorlage für Frischs Venus von Muri lieferten die Bildwelten des Klosters. Einerseits die hybride Figur der Schlange mit weiblichem Oberkörper in einem Fenster des Kreuzgangs und andererseits die Figur der Maria Magdalena in einem Deckenfresko der Klosterkirche – beide entstammen ambivalenten männlichen Projektionen auf die Frau. Frischs Venus nimmt diese in einer lustvoll-exzessiven Geste der Selbstermächtigung auf und schreibt sie um.


Ursina Roesch. Foto: Viviane Barbieri

Eine Femmeage

Ursina Gabriela Roesch (*1959, lebt in Zürich und Paris) stellt in einer «Femmeage» ihre Gotte Agnes Weber-Huber auf den Sockel, respektive auf zwei. «Frauen wird im Kunstumfeld und in der Gesellschaft immer noch nicht gebührend Aufmerksamkeit zugesprochen, geschweige denn werden sie ins Rampenlicht oder auf einen Sockel gestellt für ihre Leistungen», sagt Roesch. Wie sie aus Zeitungsfotografien hochskaliert wurden, haben die Porträts von Ursina Gabriela Roesch Agnes Weber-Huber auf dieser Steleninstallation etwas popartiges. Agnes Weber-Huber lebte in Muri und starb vor vier Jahren im Pflegeheim Kloster Muri. Sie war die Frau des Regierungs- und Nationalrats Leo Weber und engagierte sich zeitlebens für die Förderung der Künste. Roesch zeigt sie als junge Frau und als ältere Dame. Zwischen den beiden liegt ein intensives Leben voller Begegnungen, an die sich wohl manche Besucher*innen aus dem Freiamt erinnern werden.

Klodin Erb. Foto: Viviane Barbieri

Demokratische Herzkammer

Klodin Erb (*1963, lebt in Zürich) schafft in einem Arbeitszimmer des Klosters eine Herzkammer. Inspiriert von der Ästhetik der katholischen Re- liquien näht sie mit Lammleder Objekte, die sie mit glänzenden Herzen bemalt. Klar, eine Referenz ist das Herz von Zita, der letzten Kaiserin von Österreich, das in Muri begraben liegt. Aber Erbs Arbeit demokratisiert gewissermassen den Zita-Kult: «Nicht nur Zita soll im Zentrum stehen, sondern hier im Kloster könnten auch die Herzen von vielen anderen ruhen, auch andere Leute waren wichtig fürs Kloster und für das Leben überhaupt, gerade auch Frauen», erklärt die Künstlerin. Auch die Materialität unterstreicht dieses egalitäre Programm: Da wäre das Lamm als biblisches Symbol für den Menschen, das Leder ist in unterschiedlichen Brauntönen gefärbt. Alle unsere Herzen sind der Vergänglichkeit preisgegeben, aber schimmert da etwa Hoffnung auf das ewige Leben in dem metallischen Glanz der gemalten Herzen? Ein Wink auf die Zukunft? «Wir wissen ja nicht, welche Art von Herzen wir in hundert Jahren haben werden ...»

Michaela Allemann Foto: Viviane Barbieri

Bibliothek der Venusfrauen

Michaela Allemann (*1964, lebt in Muri) stellt mit ihrer Installation Fragen nach der Sichtbarkeit weiblicher Figuren im Kloster Muri. Denn obwohl in der 1000-jährigen Klostergeschichte stets wechselseitige Beziehungen zwischen Frauen- und Männerkloster bestanden, ist der Einfluss der Frauen eine Leerstelle, die historisch noch nicht aufgearbeitet wurde. Allemann hat jeder der 49 Frauen (Meisterinnen und Äbtissinnen des Klosters Hermetschwil) ein symbolisches Buch mit pinkem Einband gewidmet. Denn diese 49 Persönlichkeiten haben ebenfalls massgeblich zur Geschichte beigetragen. Allemanns «Scriptum est» ist buchstäblich eine «Kernbohrung» durch die 1000-jährige Klostergeschichte. Der Bücherturm mahnt derzeit im Äbtekeller diese Leerstelle an. Darüber hängt für jede dieser «Venusfrauen» eine Nigella Damascena («Venushaarige»).

Denise Kobler. zvg

Materielle und geistige Metamorphosen

Das Kloster Muri hat nicht nur biografisch gesehen für das Kunstschaffen von Denise Kobler (*1963, lebt in Zürich) eine initiative Bedeutung. Die Auseinandersetzung mit dem Ort gab den Impuls für eine ganze Werkserie. Die Künstlerin ist in Muri aufgewachsen, besuchte in einem Trakt des Klostergebäudes die Schule und verbrachte viel Zeit staunend in der Klosterkirche. «Die Reliquienaltare haben mich fasziniert, mit den verzierten Knochen, Schädeln und Bildern. Diese Kirche ist bestimmt mit ein Grund, weshalb ich Künstlerin geworden bin.» Die Arbeit für die Venusausstellung hat bei Kobler einen Schwall von Erinnerungen an diese Zeit ausgelöst, an die Grossmutter mit ihrem Weihwasser, an das katholische Umfeld. Derzeit malt sie in Schellacktusche und Nasstechnik mit grossen japanischen Pinseln liegende Körper auf Papierbögen in der Grösse von 220 ×75 cm, wovon einer in der zweiten Ausstellungsstaffel zu sehen sein wird. Koblers Kompositionen erinnern an die schlafenden Reliquienkörper und in ihrer Transparenz an eine materielle und geistige Metamorphose.

Maksim Klopfstein

Befreite Fabelwesen

Die Berner Künstlerin Maksim Klopfstein (*2000, lebt in Bern) hat sich auf der Suche nach einer modernen Venus von feministischen Ansätzen leiten lassen. «Die Venus mit ihrer Konnotation als Sexsymbol und Nymphenwesen ist in verschiedenen Darstellungen einer patriarchalen Logik unterworfen», sagt Klopfstein. «Als weiblich-gelesene Person hinterfrage ich das. Ich will die Venus vom male gaze lösen.» In ihrem bisherigen Schaffen hat sich die Künstlerin mit Fabelwesen, Cyborgs und indigenen Mythologien auseinandergesetzt. Für ihre Position in Muri gestaltet Klopfstein drei grossformatige Bilder, die sie in Anlehnung an den kirchlichen Kontext als eine Art freischwebendes Triptychon hängt. Sie malt mit Erde, die an den Ufern der Bünz, des Dorfbachs von Muri, abgegraben wurde, drei androgyne, nonbinäre, fluide Wesen. Ihre Neuinterpretationen brechen mit den tradierten Bildern der Venus. Erde und Fluss – Schöpfungsmaterial und Zeitenstrom, ein anspielungsreiches Werk.

GEMEINSAME SUCHE

Über 60 Kunstschaffende zeigen in zwei Staffeln die Ergebnisse ihrer Spurensuche nach der Venus. Das Projekt ist partizipativ angelegt: Auch Besuchende und Interessierte sind eingeladen, sich über das Thema künstlerisch einzubringen. Die erste Staffel läuft bis zum 28. Juli, die zweite Staffel startet am 10. August und dauert bis zum 3. November. MURI Museen von Murikultur und Klosteranlage, Infos: venusvonmuri.ch