Nach jahrelangem Kampf durch Aktivist*innen wie Ximena González hat Kolumbien den Fluss Atrato zu einem Rechtssubjekt deklariert. Damit soll die Symbiose zwischen den dort lebenden Menschen und dem Fluss geschützt werden – vor den Folgen von Krieg und extensivem Ressourcenabbau. Im Stapferhaus Lenzburg erzählen die Juristin González und die Fotografin Juanita Escobar vom Leben mit dem Fluss.
Juanita Escobar: Überall ist Wasser – nicht nur im Fluss. Am Atrato und seinen verschiedenen Nebenflüssen sieht man den Regen ständig kommen und gehen. Das ist sehr eindrücklich.
Ximena González: Ja, am Atrato bleibt man nie trocken! Die Feuchtigkeit umgibt einen, man schwitzt, es ist ein Ort des Wassers. Und der Atrato erzählt sehr viele Geschichten. Er ist ein Ort grosser kultureller und landschaftlicher Vielfalt: An ihm gibt es Städte wie Quibdó, das laut und bunt ist, mit vielen Früchten, ratternden Motoren. Und es gibt Berge, Sümpfe, Wälder ...
Juanita Escobar: Jeder Teil des Atrato ist ein Mikrokosmos. An der Quelle ist das Wasser eiskalt und klar und die Pflanzen und Insekten sind zahlreich und bunt. Bei der Mündung ist der Atrato fast nicht mehr von einem Meer zu unterscheiden. Dort ist das Ökosystem anders: eine Sumpflandschaft und riesige Vögel prägen die Szenerie.
Ximena González: Nicht nur – der Atrato ist auch gezeichnet von Gewalt und der Präsenz verschiedener krimineller Banden. Das Leben der Menschen ist geprägt von einem jahrelang andauernden bewaffneten Konflikt: Seit den 1990er-Jahren ist die Region Schauplatz von Tod, Massenvertreibung und Angst. Grund dafür ist die militärische Konfrontation zwischen der FARC-Guerilla, Paramilitärs und der kolumbianischen Regierung. Und seit der Kolonialzeit ab dem 16. Jahrhundert wird die lokale Bevölkerung marginalisiert und von der Gesellschaft ausgeschlossen. Damals kamen die Spanier in Südamerika an. Sie liessen sich zuerst an der Mündung des Atrato nieder, wurden später wohlhabend durch Sklavenarbeit, und bewohnten bald die ganze Region des Atrato. Ab 1851 begann die Sklavenbevölkerung sich zu emanzipieren und schuf ihre eigenen, mit dem Fluss verbundenen Lebensformen. Für mich repräsentiert der Atrato einen Dialog mit meiner Familiengeschichte: Seit über 15 Jahren befasse ich mich mit der Verteidigung der Rechte der Schwarzen Gesellschaften. In der Region der kolumbianischen Karibik, wo ich herkomme, war Schwarzsein aufgrund des starken Rassismus mit Scham verbunden. Als ich das erste Mal zum Atrato kam, fühlte ich mich sehr verbunden mit den Afrokolumbianer*innen.
Juanita Escobar: Als ich 2022 für die Fotoreportage zum Atrato reiste, war die politische Situation in der Region heikel. Um sicher unterwegs zu sein, war ich auf eine enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort angewiesen. Dabei habe ich gemerkt, wie die Gemeinden von unglaublich starken Netzwerken getragen werden. In ihnen gründet die grosse Widerstandskraft, welche die Anwohner*innen des Atrato ausstrahlen. Es ist ihr Überlebensrezept inmitten der ständigen Gefahr. Mir öffnete María de los Angeles die Zugänge zur Region. Sie ist eine Vertreterin des grössten Gemeinderates Kolumbiens und begleitete mich auf meiner dreiwöchigen Reise von der Quelle zur Mündung des Rio Atrato. Auf der Reise realisierte ich auch, wie eng die Menschen und der Fluss miteinander verbunden sind; man kann die einen nicht ohne den anderen denken.
Ximena González: Der Atrato bedeutet der lokalen Bevölkerung alles: Er ist Kommunikations- und Transportmittel, er ist der Ort, wo sich Menschen treffen und unter anderem ihre Probleme besprechen. Er ist Spiel- und Arbeitsplatz; er ist die Waschküche für Körper, Kleider und Geschirr. Sein Wasser liefert die Grundlage für den Anbau von Nahrungsmitteln und die Minenarbeit. Es ist ein Ort riesiger Gegensätze: Leben und Tod liegen hier nahe beieinander. Am Fluss wird geboren, gleichzeitig werden die Leichen von Gefallenen aus dem bewaffneten Konflikt in ihm versenkt. Für die lokale Bevölkerung ist der Atrato nicht eine isolierte Einheit, sondern ein Wesen, das fühlt und lebt.
Ximena González: Der Kampf für die Rechte des Flusses war der Weg, nicht das Ziel. Das Ziel war die Friedenssicherung in einer Region, in der Krieg herrschte und wo es schwerwiegende Verstösse gegen die Menschenrechte gab. Ab 2008 entwickelten wir mit einer kleinen NGO für die Friedensorganisation FISCH eine juristische Strategie für eine regionale Friedensagenda. Um eine Diagnose der territorialen und ökologischen Konflikte zu erstellen, mussten wir die Beziehung zwischen Krieg, Zerstörung des Territoriums und der Verschmutzung verstehen. Wir bereisten die gesamte Region und arbeiteten insbesondere mit Afrokolumbianer*innen, Indigenen und Frauen zusammen. Wir analysierten die Interessen des Bergbaus, des Forstes, der Agrarwirtschaft, der Erdölförderung und der Fischerei und entwickelten daraus eine Rechtsstrategie. Schliesslich formulierten wir verschiedene Klagen – unter anderem die Verteidigung des Atrato. Sie führte zur Anerkennung biokultureller Rechte, sie war also eine Klage gegen die Verletzung der Symbiose zwischen Menschen, Fluss und Biodiversität.
Ximena González: Ganz vereinfacht gesagt bedeutet es, dass der Atrato als Fluss das Recht auf Erhaltung, Schutz, Pflege und Wiederherstellung besitzt. Seine Vertreter*innen können diese Rechte vor Gericht einklagen – ähnlich wie bei einer Firma. Aus juristischer Sicht ist es eine Einladung dazu, neu zu überlegen, wie wir die Natur behandeln und schützen wollen. Das Urteil T-622 sieht Natur nicht mehr als Mittel zum Zweck an und anerkennt, dass der Mensch durch und durch mit dem Rest der Natur verbunden ist. Es versucht, die Ausbeutung der Natur – die noch immer stattfindet – zu stoppen oder zumindest zu begrenzen. Das Urteil schafft also neue Rechtskategorien, Fragen und Möglichkeiten. Es war das erste Urteil Kolumbiens, welches einem Fluss Rechte einräumte. Seither wurden allein in Kolumbien weitere zehn oder zwölf Flüsse als Rechtssubjekte deklariert. Das Urteil hat also einen Stein ins Rollen gebracht und den rechtlichen Horizont erweitert. Natürlich stösst es aber auch auf grosse Herausforderungen und Widerstände.
Juanita Escobar: Es gilt, jeden Fluss einzeln und vor Ort zu betrachten und daraus die wichtigen Fragen abzuleiten: Wie stehen wir in Verbindung mit dem Fluss? Was beschützen wir? Was verletzen wir, wenn wir gegen Gesetze verstossen? Dann entsteht ein Dialog, der produktiv ist.
Ximena González: Und diese Fragen bewegen ja auch andere Orte. In Europa beispielsweise formte sich die Initiative Rios Solidarios. Inspiriert vom Urteil des Atrato luden britische Vertreter*innen die Hüter*innen des Atrato ein und begannen, sich mit neuen Fragen zu befassen: In welchem Moment haben wir hier in Europa angefangen zu denken, ein Fluss sei eine Ressource? Wann begannen wir unsere Flüsse den Ingenieur*innen zu übergeben?
Das teilweise gekürzte Interviewstammt aus der Publikation zur Ausstellung «Natur. Und wir?», 2022, NZZ Libro Verlag
María Ximena González Serrano ist eine kolumbianische Anwältin und Aktivistin. Sie arbeitete während Jahren am Rio Atrato, der den Nordwesten Kolumbiens durchfliesst. Sie reichte mit einer NGO die Klage T-622 beim kolumbianischen Verfassungsgericht ein – der Prozess erwirkte, dass der Atrato als einer der ersten Flüsse weltweit zum Rechtssubjekt erklärt wurde.
Juanita Escobar ist eine kolumbianische Fotografin und wurde für ihre Arbeiten – insbesondere zu bewohnten Gewässern – mehrfach international ausgezeichnet. Im August 2022 reiste sie für die Ausstellung «Natur. Und wir?» dem Rio Atrato entlang und fing das Zusammenleben von Fluss und Menschen ein.
Gesprächsreihe «Natur. Und jetzt?»
Braucht die Natur Rechte? Mit der Anwältin Ximena González und der Fotografin Juanita Escobar taucht die Journalistin Melanie Pfändler in die Frage ein, was das Rechtsurteil der Natur und der lokalen Bevölkerung bringt. González erzählt vom Kampf für die Rechte des Flusses und den Folgen des Gerichtsurteils. Escobar berichtet von ihrer Reise entlang des Flusses und zeigt mit ihren Bildern eindrücklich das Zusammenleben von Menschen und Wasser auf.
LENZBURG Stapferhaus, So, 11. Juni, 11.15 Uhr