Editorial

Der gute Ton der Saison

Von
Michael Hunziker

Auf welchen statistischen Achsen bewegen Sie sich? Punkto Zeitmessung, Schrittzählung, Kalorienkalkulation? Fühlen Sie sich auf den Puls, den Blutdruck? Bewegen Sie sich? Genug? Und wenn Sie sich nicht bewegen, erholen Sie sich auch? Und der Schlaf? Tauchen Sie tief genug in die REM-Phase ein? Haben sie qualitativ gute Träume?

Man könnte Kopfschmerzen davon kriegen, von diesem Imperativ der Gesundheit, der allmählich hinter jedem Jogurtdeckel auf uns lauert. Mittlerweile kauen wir an den Bushaltestellen und in Warteschlangen in der Mensa die aufgeschnappten neuesten Erkenntnisse der Ernährungswissenschaft wieder, ja sie dominieren subtil unseren Alltag: Keto-Diät, das ist der letzte Shit. Braune Fettzellen musst du haben. Ja, die Enzyme kannst du stimulieren. Keine Kohlenhydrate nach 16.45 Uhr, zwischendurch ein Shake mit Algenpulver und Seegurkenmilch. Hey, und die Praxis des Atmens imfall, wird völlig vernachlässigt ... Das Problem bei der ganzen Vermesserei ist, dass sie, obwohl sie Kopfschmerzen verursacht, eben doch stimmt: Unsere Gesundheit scheint irgendwie mit diesen Faktoren und Quotienten in Verbindung zu stehen.

Unser Gesundheitswissen ist eine ambivalente Sache, weil manchmal eben das Gegenteil auch richtig ist, ja, weil das Zusammenspiel von Körper und Psyche noch nicht gänzlich aufgeschlüsselt ist – dieses alte philosophische Rätsel entzieht sich einfach dem Mediziner*innenzugriff. Etwa weil man auch glücklich sein, wenn man krank ist, wie bei Barbara Bleisch zu lesen ist. Zuviel Gesundheit kann in einen Wahn führen, die Angst vor Krankheit ist je nach dem bereits ein Krankheitsbild. Falls Sie zweifeln, werden Sie bestimmt im ICD-10 fündig, dort sind alle Krankheiten, die Mensch denken kann, aufgelistet. Es kommen immer neue hinzu. Mittlerweile lassen sich Wände damit tapezieren.

Letzteres hat das Stapferhaus in seiner neuen Ausstellung gemacht, natürlich neben vielem anderen, denn für «Hauptsache gesund. Eine Ausstellung mit Nebenwirkungen» sind die Macher*innen eingetaucht in die vielen Facetten des Themas und eröffnen für die Besuchenden viel differenziertere Perspektiven, als meine Ausführungen bis hierhin angeschnitten haben. In der Ausstellung kommt das Gesundheitssystem selbst auf den Seziertisch, es begegnen Ihnen verblüffende Fakten und philosophische Fragen. Wir haben mit Sibylle Lichtensteiger gesprochen, welche für die Ausstellung zum letzten Mal als künstlerische Leiterin des Hauses zeichnete.

Nun, da die Tage wieder kälter werden und bei jeder grösseren Versammlung fleissig Schnupfenbakterien ausgetauscht werden, ist wieder Mut gefragt. Der zahlt sich aber aus, denn wo kann man sich mit der eigenen Gebrechlichkeit, dem Nicht-Perfekt-Sein, ja, seinem Mängelwesen-Dasein besser aussöhnen als an einer Kulturveranstaltung. Das anschliessende Näseln ist der gute Ton der Saison – sofern er dafür steht, dass Sie Kultur genossen haben. Geben Sie sich Sorge!