Ausstellung

Der Mensch erscheint im Anthropozän

Von
Michael Hunziker

Exotop, Max Grütter, 2021.

Klimaerwärmung, Industriebrachen, verbaute Natur: Das Singisen Forum in Muri zeigt, wie die Kunst das vielschichtige Thema Mensch und Umwelt bearbeitet. «Landschaftsveränderung im Blickfeld der Kunst: Sedimentieren, kristallisieren, kondensieren», kuratiert von Sadhyo Niederberger, ist ein begehbares Archiv zeitgenössischer Perspektiven.

«Weit weg» steht auf einem überdimensionalen Wanderwegweiser. In typischem Gelb steht er vor der Klosterkirche Muri und scheint auf den Erdmittelpunkt zu zeigen. Eine grosse, mehrdeutige Geste. Die Arbeit von «reality-hacker» Reto Peterhans bildet den Auftakt zu einer Art Sternwanderung, auf der sich die rund 130 Künstler*innen befinden, die hier in der Ausstellung «Sedimentieren, kristallisieren, kondensieren – Landschaftsveränderung im Blickfeld der Kunst» zu entdecken sind. Alle arbeiten auf ihre Weise zum Thema, befragen das Verhältnis des Menschen zu seiner natürlichen Umgebung und bilden ihre Erkenntnisse in unterschiedlichen Medien und Materialien ab.

Moment – 130 Künstler*innen, 2 eine Ausstellung? Ist das nicht wie Stau vor dem Gotthard oder ein Sonntag im Thermalbad? Nein, weit gefehlt. Durch die thematische Klammer öffnen sich die gezeigten Positionen zu einem gemeinsamen Dialog und so finden die vielen Assoziationen, die sich die Besuchenden unweigerlich machen werden, immer einen gemeinsamen Ausgangs- und Rückzugspunkt. Es entsteht eine produktive Konzentration, wenn man den vielen Meditationen folgt.

Die Ausstellung ist ein begehbares Archiv, und zwar wortwörtlich. Die Kuratorin Sadhyo Niederberger hat während der letzten zwei Jahre über die Auseinandersetzung mit Caspar Wolf ein eigenes Archiv angelegt und dieses nun erweitert, in dem sie mit einem Open-Call Künstler*innen angefragt hatte, mit ihren Werken ebenfalls zum Archiv beizutragen. Zusammengekommen ist innert kurzer Zeit eine beachtliche Bestandesaufnahme künstlerischen Schaffens vor dem Hintergrund des Anthropozäns. Ein Netzwerk thematisch verwandter Arbeiten: Eingehüllte Gletscher (Jacqueline Weiss, Reto Peterhans), geologische Skulpturen (Maja Thommen), Bilder von Performances (Georgette Maag). Die Künstler*innen luden die Bilder ihrer Arbeiten auf eine Webseite, verschlagworteten sie und ergänzten sie mit einem kurzen Beschrieb. Für die Ausstellung hat Sadhyo Niederberger von allen mindestens ein Werk ausgewählt und es in der Form eines Archivbogens ausgedruckt. Zudem kommen verschiedene Originale hinzu, Videoarbeiten (etwa von Andrea Wolfensberger), Skulpturen (Maya Bringolf) und Objekte (Christine Knuchel). Mit diesem dokumentarischen Ausstellungskonzept werden für einmal primär nicht die Auseinandersetzung mit dem Original und seiner Materialität, sondern Haltungen, Konzepte und Botschaften in den Vordergrund gerückt.

Während die Dauerausstellung zu Caspar Wolf im selben Gebäude, vereinfacht gesagt, zeigt, wie der Künstler im ausgehenden 18.Jahrhundert die Natur und die Bergwelt zwar realistisch, jedoch dem Menschen übermächtig darstellte, so legt rund 250 Jahre später das kontemporäre künstlerische Schaffen eine andere Sichtweise offen: Die Natur ist gezeichnet vom Menschen. Er hat sich in ihre Oberfläche eingekerbt, verändert sie fortlaufend, ist zum geologischen Akteur geworden. Die Machtverhältnisse haben sich scheinbar verschoben. In der Kunst werden nunmehr Klimakrise, wissenschaftliche Erkenntnisse, Landschafts- und Identitätsbegriffe thematisiert und dekonstruiert. Strassentunnels, hochalpine Solarparks und Schneekanonen – das ist die Kulisse und die regt philosophische, ökologische und ethische Fragen an, wie diese Schau eindrücklich zeigt.

Sedimentieren, kristallisieren, kondensieren: In diese drei Cluster sind die Werke über die Räume gegliedert. Bei Georg Aerni sieht man schneeweisse mit Planen überspannte Plantagen, die sich wie eine Gletscherzunge ins Tal legen, Tanja Kalt zeigt eine Nahaufnahme eines Salzkristalles der die Form eines Maja-Tempels hat, und Ursula Stalder zeigt sich «verflüchtigende» Plastik-Objekte, um nur drei Beispiele zu nennen. Und ganz am Rande begegnet einem noch eine Kontrastfigur: In Camouflagehosen, pausbäckig, desinteressiert sitzt da einer, als ginge ihn das alles nichts an. Das Konsumkid stammt aus der Reihe «Wonderland» von Nicole Henning. Und spätestens hier wird die politische Spannung explizit. Das ist die Kraft des Archivs: Eine Message für künftige Generationen, eine Bündelung von Haltungen. 

A Story By Emily Dickinson

Chaos bündeln, Neues entdecken

Die Kuratorin Sadhyo Niederberger über das leicht wahnsinnige Projekt, 130 Künstler*innen zusammenzubringen.

Wie bist Du auf das Thema Anthropozän gekommen?

Das lag ziemlich schnell auf der Hand. Als ich für die Ausstellung «Grand Tour Caspar Wolf» ein persönliches künstlerisches Archiv anlegte, war ich schon mittendrin. Das bringen die Werke von Caspar Wolf unweigerlich mit. Wenn man seine Themen und Motive auf unsere Zeit überträgt, landet man beim Anthropozän. Und als Landschaftsmalerin, wie ich mich früher selbstironisch bezeichnete, haben mich Landschaftsveränderungen per se immer stark interessiert.

Warum setzt Du dich damit gerade in der Form eines Archivs auseinander?

Bei mir verschränkten sich in den letzten Jahren die künstlerische mit der kuratorischen Arbeit. Vielleicht deshalb. In der archivarischen Tätigkeit trifft sich beides. Sammeln, verschlagworten, dokumentieren, versuchen, das Chaos zu bündeln, ordnen, um Neues zu entdecken. Ein wichtiger Einfluss für mich war Aby Warburg, der mit seinen unkonventionellen Bildarchiven die Kunstgeschichte verändert hat. Das Archiv ermöglicht ungeahnte Querverbindungen, die ich für mich, aber auch für andere in der Kunstvermittlung, aufzeigen möchte.

Wie verhinderst Du, dass das Projekt einen didaktischen Drall bekommt?

Anfangs hatte ich genau diese Befürchtung, dass ein impliziter Zeigefinger über allem schwebt. Aber dann habe ich gemerkt, dass das mit dem Material gar nicht möglich ist. Hinter jedem Beitrag steckt eine enorme Komplexität, darum funktioniert der didaktische Zugriff auch gar nicht.

Wie hast Du innert so kurzer Zeit so viele Arbeiten erhalten?

Letztes Jahr im September habe ich etwa 150 Kunstschaffende angeschrieben, 50 auch persönlich eingeladen, dann ging das Schneeballsystem los. Durchs Band erhielt ich positive Resonanz. Manche haben sich durch die Einladung angeregt gefühlt, und das Thema für sich neu entdeckt, andere sahen sich darin bestätigt. Durch die Anfrage ist jemand auch aus einer langen Schaffenspause wieder aktiv geworden. Das freut mich sehr.

Die Ausstellung ist nicht didaktisch, aber doch politisch ...

Definitiv! Es ist eine politische Ausstellung! Es geht um Haltungen, Inhalte. Vielfältige Stimmen sind zu sehen und zu hören. Aber die Ausstellung bietet keine Lösungen. Sagt nicht, wie es richtig ist. Ist nicht zielgerichtet, sondern spielt mit Gedanken und stellt Fragen.

Das Archiv ist ja beinahe etwas demokratisches, partizipatives. Gäbe es auch Arbeiten, die du ablehnen würdest?

Ich habe einmal gesagt, Kunstausstellungen sollen nicht demokratisch, sondern gut sein (lacht). Jetzt mache ich das Gegenteil. Aber ich musste niemanden abwimmeln, obwohl die Plattform ziemlich offen ist. Als Kuratorin sehe ich mich immer noch als Hauptverantwortliche des Archivs. Bei manchen Werken war es etwas herausfordernd, sie im Hinblick auf die Ausstellung einzubinden.

Was nimmst du persönlich aus dem Projekt mit?

Inhaltlich habe ich sehr viel über Kunst gelernt, habe mir jede Eingabe genau angeschaut, viel recherchiert sowie Leute neu- und wiederentdeckt. Viele habe ich auch persönlich getroffen. Weitere eigene künstlerische Projekte blieben auf der Strecke, denn dieses Kapitel des Archivs «Reading Caspar Wolf» fordert meine ganze Aufmerksamkeit. Im Gegenzug entstanden viele bereichernde und intensive Begegnungen. Das ist, was bleibt. 

Sadhyo Niederberger lebt und arbeitet in Aarau. Als Kuratorin wie auch als Künstlerin ist sie seit drei Jahrzehnten vielseitig engagiert. Sie hat verschiedene Offspaces mit iniitiert, wie etwa das «Eck» in Aarau oder Kunst im Trudelhaus in Baden

LANDSCHAFTSVERÄNDERUNG IM BLICKFELD DER KUNST

Die Ausstellung «Landschaftsveränderung im Blickfeld der Kunst» gliedert sich in zwei Teile. Vom 4.März bis 23.Juli 2023 präsentiert sich der erste Teil unter dem Titel «sedimentieren, kristallisieren, kondensieren» als dokumentarische Ausstellung im Singisen Forum von Murikultur. Vom 12. August bis 12.November 2023 präsentiert der zweite Teil unter dem Titel «Rolling Stones» ausgewählte Originalwerke der vorangegangenen dokumentarischen Ausstellung.

Das virtuelle Archiv ist hier zu entdecken: readingcasparwolf.kleio.com

«El jardín de los cíclopes»

Changes we are all witnessing

Schnee von Gestern

Gut betucht

CAMOUFLAGE

Empty City