Die andere Seite

Interview:
Philippe Neidhart
Foto:
S. Agnetti

Andres Andrekson alias Stress ist mit seiner Biographie auf Lesetournee – begleitet von Autor Daniel Ryser. Im Buch spricht er über seine schwierige Kindheit im kommunistischen Estland und seine schillernde Karriere als Rapper, während er mit Depressionen und Beziehungskrisen zu kämpfen hatte. Wir haben uns mit ihm über seinen Werdegang, über Hip-Hop und Politik unterhalten.

Das Buch «179 Seiten Stress» ist sehr bewegend und gibt tiefe Einblicke in dein Leben. Weshalb hast du dich entschieden, mit deiner Geschichte an die Öffent­lichkeit zu gehen?

Andrekson: Ich bin an einem Punkt meiner Karriere angelangt, wo dieser Schritt Sinn ergab. Nach über 20 Jah­ren im Musikbusiness wirst du ein Teil davon – und viele vergessen, wer die Person dahinter ist. Wer hätte gedacht, dass dieser kleine Junge, der einst aus Estland hierherkam, dies so lange durchziehen würde … Mit dem Buch gebe ich dem Publikum die Möglichkeit, eine andere Seite von mir zu entdecken, tiefer in meine Geschichte einzutauchen und eine neue Perspektive zu eröffnen.

Wurdest du vom Erfolg des Buches überrascht? Es erscheint ja bereits in der 2. Auflage.

Als wir das Projekt in Angriff nahmen, hatten wir keine Ahnung, ob es auf Interesse stossen würde. Aber ich glaube, Daniel Ryser hat eine gute Form gefunden. Mich freut es, dass das Buch die Leute so berührt und dass sie darin etwas finden können, was sie für ihren Alltag mitnehmen können.

Deine Geschichte beginnt mit einer von Gewalt ge­prägten Kindheit im kommunistischen Estland – mit 11 Jahren kamst du dann nach Lausanne; in eine fremde Kultur.

In Estland hatte ich kaum Zeit, Kind und Teenager zu sein. Als ich in die Schweiz kam, war dies eine komplett neue Realität, an die ich mich erst einmal gewöhnen musste. Mir wurde bewusst, dass ich bis anhin in einer Welt gelebt hatte, die eigentlich nicht normal war. All die Möglichkeiten, die sich hier boten – auch in materieller Hinsicht – waren im Kommunismus nicht gegeben. Deshalb habe ich ein riesiges Glück, in der Schweiz zu sein. Und von da kommt auch meine Einstellung, immer 110 Prozent zu geben.

Hier kamst du auch mit Hip­-Hop in Kontakt. Was war das für ein Gefühl, als du das erste Mal einen Rap­ Song gehört hast?

Es war wie ein Flash. Ich war vielleicht 12 oder 13, und überfordert von der rohen Energie dieser Musik, und doch konnte ich sie irgendwie verstehen und mich mit ihr identifizieren. In Estland waren wir arm und die Opfer des Systems, und Rap war Rebellion, das hat mich wirklich angezogen. Mit Hip-Hop hatte ich eine Leidenschaft gefunden, in der ich mich ausdrücken konnte.

Hip­Hip als Lebensgefühl …

Heutzutage ist Rap für viele nur eine Musik – als ich da­ mit angefangen habe, war Hip-Hop noch eine Kultur und ein Weg, mein Leben zu leben. Ich habe begonnen zu tanzen, habe Graffitis gemacht, und dann habe ich den Rap für mich entdeckt. Diese Art, sich mit Wortspielen auszudrücken, hat mich fasziniert. Ich verbrachte etliche Stunden zuhause, und habe nichts anderes getan, als Rhymes zu schreiben.

War dieses Schreiben auch eine Möglichkeit, deine Vergangenheit zu verarbeiten?

In meinen ersten Jahren mit Double Pact wollte ich in erster Linie Spass haben, eine coole Zeit mit den Jungs verbringen und Girls beeindrucken. Erst als ich mich dem Soloprojekt «Stress» widmete, konnte ich tiefer gehen mit den Lyrics und meine Geschichte erzählen.

Diese Tiefe heisst bei dir oft die Auseinandersetzung mit Politik – auch im Buch kommt dies an mehreren Stellen zur Sprache. Muss Kunst – muss Hip-Hop – politisch sein?

Wenn man in einem System und einer Gesellschaft auf­ wächst, wo man kein Recht hat, zu sagen, was man denkt – und dann kommt man hier in die Schweiz, und erhält dieses Recht, dann macht man von diesem Gebrauch. Zudem bin ich mit Bands wie Public Enemy aufgewachsen – damals war es normal, einen politischen Standpunkt zu vertreten. Ich finde es wichtig, dass man ausdrückt, was man fühlt. Musik hat in meinem Leben so viel verändert und meinen morali­schen Kompass geschärft. Das will ich weitergeben.

Kandidiert also Stress irgendwann für den National­rat?

In der Politik muss man viele Kompromisse eingehen – eine schwierige Arbeit. Ich weiss nicht, ob ich dafür geeignet bin, ich kann nicht aufs Maul sitzen … ganz ehrlich, ich glau­be nicht (lacht). Ich spreche lieber als Künstler über Dinge, die wichtig sind in der Gesellschaft heutzutage. Ob politisch oder nicht, die Welt ist so komplex, das ist oftmals eine Grau­zone. Wenn ich den Leuten eine Orientierung bieten kann, dann mache ich das gerne.

Ist dies auch das Ziel deiner Biographie?

Das Buch ist ein Zeugnis darüber, dass man, egal woher man kommt, was für Schwierigkeiten man durchgemacht hat, ein anständiger Mensch sein kann. Es werden immer Challenges da sein – egal was dir im Leben für Scheisse widerfährt, wir sollten uns nicht dafür schämen, sondern mit Stolz und neuer Kraft aus solchen Situationen rauskommen. Das ist eigentlich der Hintergrund des Buches: Es kann viel schief gehen, aber es ist immer möglich, eine gute Zeit im Leben zu haben – es bleibt uns ja nichts anderes übrig.

Hat dir das Buch auch dabei geholfen, mit deiner eigenen Vergangenheit abzuschliessen?

Ich glaube, es hat mir geholfen, zu akzeptieren, dass wir unsere eigene Vergangenheit nicht ändern können. Von dem Moment an, wo man beginnt, die eigene Geschichte niederzuschreiben, trägt man diese Last nicht mehr allein im Herzen. Man kann sie in eine Schublade legen – das hilft, das ganze ein wenig zu verdauen. Ich habe realisiert, dass ich mich nicht schämen muss für das, was mir passiert ist. Man kann es einfach erzählen und dann merkst du, dass es vielen anderen Leuten hilft. Am Ende des Tages sind wir alle nur Menschen, und wir können nicht alles in unse­rem Leben beeinflussen. Das Wichtigste ist sich zu fragen: Was mache ich mit dieser Wut, mit diesem Schmerz, mit diesen negativen Erfahrungen. Ich glaube, es ist möglich, diese in etwas Positives zu transformieren.

Und zum Schluss: Was würdest du Jugendlichen für einen Tipp mit auf den Weg geben, die eine Karriere im Musikbusiness anstreben?

Geduld, Leidenschaft und Resilienz. Ich glaube, heutzu­tage verschwenden wir zu viel Zeit darüber, nachzudenken, wie man sich profilieren oder cool wirken kann. Als ich mit Hip-Hop begann, haben meine Klassenkameraden zu mir gesagt: «Rap ist keine Musik, das ist einfach Schrott!». Aber ich habe es cool gefunden, und das hat gereicht. Genau das ist der Punkt: Wenn du für etwas eine Leidenschaft entwi­ckelst, kann es dir egal sein, was andere Leute sagen. Bleib dran und hör auf dich selbst.

BADEN Royal, Do, 16. März, 20.30 Uhr, Lesung aus «179 Sei­ten Stress» mit Andres Andrekson und Daniel Ryser.