Wie hängen Leben, Schreiben und Schicksal zusammen? Der Schriftsteller Christian Haller, Buchpreisträger 2023, hat uns in seiner Schreibstube in Laufenburg empfangen. Ein Gespräch über seine bewegte Biografie, die neue Novelle und die Beseeltheit der Welt – oder über das rätselhafte Spiel der Quanten.
Es regnet ununterbrochen, seit Tagen. An den Flüssen baut die Feuerwehr Schutzdämme auf. Brücken sind gesperrt. Das Radio sendet eine Hochwasserwarnung nach der anderen. In Laufenburg schiebt der Rhein seine gewaltigen Fluten direkt unter dem Arbeitszimmer von Christian Haller vorbei. Hier sitzen wir, zwischen einer Buddha-Statue und einer Bücherwand. Die Aufnahme läuft.
Christian Haller: Es ist Dramatik, wie das Wasser hier unter uns wälzt und wirbelt. Die Flut weckt auch eine Erinnerung. Bei einem solchen Hochwasser ist unsere Terrasse weggespült worden und wir mussten das Haus sanieren. Das ist eine schwierige, belastende Zeit gewesen. Es hat uns in eine existenziell unsichere Situation gebracht, die auch zum Auslöser meiner autobiographischen Trilogie geworden ist.
Nein, wir lebten in diesem Haus auch wegen meiner Lebenspartnerin, die leider vor drei Jahren in der Corona-Zeit verstorben ist. Sie war behindert und unser Haus auf ihre Bedürfnisse und Möglichkeiten eingerichtet, so dass Weggehen keine Option gewesen wäre.
Ich schreibe von der eigenen Erfahrung ausgehend, von dem, was ich deshalb auch am besten kenne. Wir Menschen leben in einem Wahrnehmungsraum, der durch unsere Sinne und unser Empfinden begrenzt ist. Es gibt Momente, in denen sich in dieser Box ein Spalt öffnet und man in eine andere Dimension sieht. Durch religiöse Rituale, Ekstase, durch Drogen versucht der Mensch seit jeher diesen Wahrnehmungsraum zu durchbrechen. Bei meiner Figur Helstedt löst die Tatsache, dass er von Heisenberg beobachtet worden war, diesen Moment eines Durchbruchs aus. Nach den Erkenntnissen der Quantenphysik verändert der Beobachter das zu Beobachtende, und das habe ich metaphorisch für die Figur Helstedt umgesetzt.
Da stellen Sie mir eine fast unbeantwortbare Frage. Die Entwicklung eines Stoffs ist ein komplexer Prozess, den ich nicht steuern kann. Zuerst hat mich wohl die Anekdote von Heisenberg angeregt, nach der er einen Mann beobachtet hatte, der unter Strassenlaternen hindurch ging, verschwand, bis er bei der nächsten wieder erschien. Eine alltägliche Beobachtung, die am Anfang zu seiner grandiosen weltumstürzenden Theorie der Unschärfe stand.
Schreiben ist mir eine Notwendigkeit, auch weil ich nicht sehr viel anderes kann. Das eigene Leben ist mir so unverständlich wie die Welt, in der wir leben. Das Schreiben erlaubt mir, die Fragen zu erforschen, was das denn eigentlich sei, was ich gelebt habe. Diese Fragen waren auch der Auslöser für die drei autobiografischen Bände, wobei man Autobiographie nicht mit einem Tatsachenbericht verwechseln sollte. Mit dem Skalpell den eigenen Lebensstrukturen zu folgen, ist ein fiktionaler Prozess. Die Erinnerung selbst ist Dichtung. Sie fördert keine Tatsächlichkeiten hervor, sondern ist immer schon das Produkt von Reflexion, von Gefühlen, von Eindrücken, die man in der Zwischenzeit gemacht hat. Die Unterscheidung zwischen reiner Fiktion und biografischer Autofiktion ist hinfällig.
Ja, ich habe diesen Moment einer Initiation im ersten Band «Die verborgenen Ufer» festgehalten. Der Erzähler befindet sich allein im Tessin. Er wollte mit seiner Freundin in die Ferien fahren, was aber nicht gestattet worden ist und zu den ersten Anzeichen eines Bruchs führt. Gleichzeitig realisiert er, dass ihm auch sein Berufswunsch, Schauspieler zu werden, verstellt ist. Auf einem Spaziergang strömen ihm auf dem Weg Wörter zu, die er einem Freund in einem Brief mitteilen will. Doch während er schreibt, merkt er: Die Wörter wollen nicht zum Brief werden, sie wollen etwas anderes, eigenes, und es entsteht ein Gedicht. Ich wusste, ich müsste schreiben. Wobei ich natürlich keine Vorstellung hatte, was das genau bedeutet, Schriftsteller zu werden. Das war 1962, ein Jahr bevor ich das Lehrerseminar abgeschlossen habe.
Am Anfang war das wirklich nicht so klar. Ich schrieb und zweifelte, ob ich ein Dichter sei. Ich kam ja nicht aus einem literaturaffinen Haus. Aber dann gab es Momente, die mich bestätigten. Meine ersten Gedichte hatte ich dem Jugendbuchautor Michael West (Max Voegeli) gegeben. Seine damalige Freundin hat mir verraten, dass er sich sehr positiv geäussert hat. Das sind Schlüsselmomente, die es immer wieder gab. So schrieb mir Georg Kreisler: «Ich muss Sie leider ermutigen», als ich ihm etwas zu lesen gab.
In der Zeit habe ich mich intensiv in das Buch eingearbeitet, und nach Wochen der Beschäftigung habe ich es ein erstes Mal befragt. Meine Frage war aber nicht, wie werde ich Schriftsteller, sondern was mein mich bestimmendes Zeichen sei. Das Ergebnis war ein Doppelzeichen: Das Abgründige, das Wasser. In den Kommentaren hiess es, man solle wie das Wasser dem Gefälle folgen, so würden die Widerstände umgangen. Das wurde später ein Motiv in der Biografie: Der Junge, der den Weg finden will, den es nicht gibt – weil er nicht vorgegeben ist. Er muss ihn wie ein mäandrierender Fluss selbst suchen, das Gefälle erkennen und ihm folgen.
Die waren etwas verstört. Sie haben damit gerechnet, dass sich mein Schriftstellerwunsch auswachsen würde. Nach ihnen hätte ich Lehrer werden sollen, ein festes Einkommen, eine feste Aufgabe haben. Ich absolvierte das Seminar ursprünglich, damit ich zur Prüfung an die Schauspielschule zugelassen würde. Nach dem sich dieser Berufswunsch zerschlagen hatte, bin ich einen Moment völlig ratlos dagestanden. Ich unterrichtete ein Jahr als Lehrer in Rheinfelden, was desaströs geendet hat. Ich hatte mit Eltern und mit Behörden Ärger, die fanden, ich mache zu viel Musisches. Vielleicht hatten sie ja recht, und ich war kein guter Lehrer, wollte es auch nie sein. Für meine Eltern war es jedoch verstörend, dass ihr Sohn nun in einer ungeheizten Dachkammer ohne fliessendes Wasser horstete und auf einer uralten Armeeschreibmaschine seine Gedichte schrieb.
Nur die Mutter. Der Vater blieb unten im Auto sitzen und hat gewartet. Er hat es nicht über sich gebracht, die Treppen hochzusteigen. Es hat ihn zu stark beelendet (lacht).
Ja, ich nenne sie manchmal meine Bohème-Zeit. Ich lernte Leute kennen, die ebenfalls schrieben. Ich verkehrte in Schauspielschulkreisen. Mathias Gnädinger zum Beispiel war ein guter Freund, und wir waren eine Bande, die Nächte in Kneipen durchgebracht hat. Wir haben uns als Künstler gefühlt, wenn wir in der Bodega-Bar sassen, tranken und diskutierten. Die Bodega war damals berühmt und berüchtigt, dass dort Künstler und Intellektuelle verkehrten, wie übrigens auch im alten Odeon. Nicht selten traf man dort Walter Mehring, Willy Burkhard, Werner Wollenberger (der gefürchtete Kritiker), die Schauspielerinnen vom Schauspielhaus, Grössen von Theater und Literatur, zu denen wir hochgeschaut haben.
Mein Mentor Max Voegeli hat mir diese Türen aufgestossen. Er hat sich mit östlicher Philosophie und Literatur beschäftigt. Durch ihn lernte ich die Romane chinesischer Klassiker kennen, selbstverständlich Lao-Tse oder die japanischen Zen-Schriften, aber auch die Veden oder ein Epos wie das Mahabharata. Ein zentrales Werk war die «Philosophia perennis» von Aldous Huxley. Aus dem Krieg heraus war die Wohlstandsgesellschaft gewachsen. Und die hatte etwas Rigoroses, Enges. Es ging stets ums Geld, und ich weiss noch, wie ich meinem Vater gesagt habe, ich sei nicht in dieser Welt, nur um Geld zu verdienen. In der damaligen Zeit gab es unter uns Jungen einerseits eine starke sozialistische und andererseits eine eher hippie-mässige Strömung. Ich stand auf der anarchischen Seite. In einem Vorwort von Gedichten Alexander Gwerders hiess es, er sei ein Individual-Anarchist gewesen. Das schien mir die einzig mögliche Haltung eines Intellektuellen. Gruppen- und Massenzuge hörigkeit behagten mir nicht. Wir hatten ja gesehen, zu was Massen fähig sind.
Per Zufall traf ich einen früheren Mitschüler aus der Se minarzeit wieder. Der erzählte mir, dass er vom Studium die Nase voll hätte und zum Zirkus ginge. Er sei in der nächsten Saison beim Nock als Musiker angestellt. Aber weisst du was, sagte er. Du solltest Biologie studieren! Er sprach aus, was ich noch nicht wusste. Nach dem Treffen bin ich vom Tisch aufgestanden und es war klar, was ich zu tun hatte (lacht).
Während acht Jahren habe ich am GDI internationale Kongresse zu kritischen gesellschaftspolitischen Themen organisiert. Eine spannende Zeit. Ich habe bedeutende Leu te wie Herbert Marcuse oder Erich Fromm kennengelernt. Ich reiste, lernte andere Länder kennen. Im Amerika der 1970er-Jahre sprach man von einem grossen Paradigmen wechsel, neue gesellschaftliche Modelle entstanden. Die Arbeit am GDI hat – um mit Dürrenmatt zu sprechen – das schweizerisches Gefängnis gesprengt.
Ich brauchte keinen Mut. Für mich war klar, das ist mein Weg. Ich hatte einen schmalen Erzählband geschrieben, der in einem Verlag erschien, der kurze Zeit später Pleite ging. Ich habe mich in meine Wohnung zurückgezogen und habe dort an einem umfangreichen Roman gearbeitet, der keinen Verlag fand. Dann habe ich einen zweiten Roman, einen dritten Roman geschrieben, die beide nicht erschienen sind. Mit Aufträgen und Artikeln habe ich mich über Wasser gehalten.
Von einem Tag auf den andern war unser Leben vollständig verändert. Meine damalige Partnerin war Regisseurin und Schauspielerin. Wir haben schon zuvor mit wenig Geld gelebt, in einer kleinen Wohnung in einem alten Weinbauernhaus. Als meine Partnerin aus der Reha zurückkam, standen wir praktisch auf der Strasse. Die Wohnung war uns gekündigt worden, und ohne feste Anstellung konnten wir keine neue Wohnung mieten. Wir mussten zu meiner Mutter ziehen. Dieser Schicksalsschlag und der fast gleichzeitige Tod von Max Voegeli haben tiefe Wunden hinterlassen, die auch mein Schreiben prägten. Ich hatte noch ein finanzielles Polster von der Arbeit am Duttweiler-Institut, von dem wir zehrten. Doch nur Dank der Hilfe der Schwester meiner Partnerin konnten wir in Baden eine neue Wohnung mieten.
Ja, immer. Jeden Morgen bin ich früh aufgestanden und habe geschrieben. Das gehörte fest zu meinem Tagesablauf. Doch es war schwer, meine Bücher zu verlegen. Mit meinem ersten Roman hatte ich zwar keinen Verlag gefunden, aber eine Agentur, die renommierte Agentur Liepman in Zürich. Die hatte alles versucht, meine Bücher unterzubringen. Es gelang einfach nicht. Sie wurden abgelehnt.
Meine Partnerin, ihre Schwester und ich lebten später zu dritt in diesem Haus hier in Laufenburg. Durch dieses fürsorgliche Arrangement habe ich viel bekommen. Die Invalidität meiner Partnerin schirmte mich ab, im positiven Sinn. Ich blieb ausserhalb des Betriebs und war immer sehr bei mir. Ich hatte einen Schutzraum, in dem ich meine Arbeit machen konnte, einen Rückzugsort, in dem ich unbehelligt blieb.
Am ersten Tag im Krankenhaus sagte mir der behandelnde Arzt, ich müsse wissen, dass 90 % der Männer die Erkrankte verliessen. Ich gehöre nicht zu den 90%. Sie zu verlassen, kam für mich nie in Frage. Es entsprach nicht meiner ethischen Auffassung, sie gerade dann, wenn sie Hilfe am nötigsten hat, zurückzulassen. Auch Freunde fragten, warum ich bleiben würde. Die Frage hat eine Berechtigung. Durch die Behinderung des Partners wird man auf eine Art mitinvalidisiert. Der normale Alltag bricht auseinander. Sie können nicht mehr frei tun und lassen, was Sie wollen. Mir war klar: Ich muss trotzdem mein Leben leben können, auch sexuell und körperlich, sonst verliere ich die Kraft, auch für meine Partnerin. Oft kamen von Aussenstehenden moralisierende Vorwürfe. Das hat mich aber nie gestört. Denn wer selbst nie in einer solchen Situation war, kann nicht beurteilen, was sie bedeutet.
Trost würde ich nicht sagen. Eher eine Bewältigung, die Erfahrung in Sprache zu bringen. Es war für mich, als müsste ich mich an den Glutkern eines Meteoriteneinschlags heranarbeiten. Lange Zeit war er zu heiss, um ihm wirklich nahe zu kommen. «Im Park» schrieb ich 22 Jahre später. Erst dann konnte ich ganz nah an das allmählich ausgekühlte Material herankommen und die Erfahrung sprachlich bewältigen.
Mich fasziniert, wie sie alte, eingefahrene Denkformen aufzulösen vermag und ein Weltbild geschaffen hat, in dem der Beobachter das zu Beobachtende verändert, im Mass seines Wissens und seines Messens – wie Heisenberg mit seiner Unschärferelation herausgefunden hat. Entsprechend erfährt Helstedt, wie er und die Dinge um ihn herum miteinander verwoben sind. Er erspürt, wie wir die Wirklichkeit aus unserem Wissen und Erfahren konstruieren, folglich seine jetzige Welt nicht so sein könnte, ohne die Jahre mit seiner verstorbenen Frau – sie also in jedem seiner Blicke noch immer anwesend ist, wenn auch in kaum wahrnehmbaren Dosen. Durch diese Erkenntnis fühlt er sich weniger allein und weniger durch den Tod seiner Frau verlassen.
Ich arbeite zurzeit an einem Roman, der im September 2024 im Luchterhand-Literaturverlag erscheinen wird.
ZUR PERSON
Christian Haller (*1943 in Brugg) ist Schweizer Buchpreisträger 2023. Für seine «Trilogie des Erinnerns» wurde er 2007 mit dem Schillerpreis ausgezeichnet. Der Autor lebt und schreibt in Laufenburg. Zuletzt erschienen sind «Sich lichtende Nebel» (Luchterhand, 2023) und «Blitzgewitter. Eine kurze Geschichte des Lichts, in das wir uns stellen» (Matthes & Seitz Berlin, 2022). Im März dieses Jahres wird «Götterspiele», eine Oper von Thomas Fortmann, in der Alten Reithalle Aarau uraufgeführt, zu der Christian Haller das Libretto geschrieben hat.