Das offene Objekt

Die Heilige Sippe: Ein Netz von Beziehungen

Von
Rudolf Velhagen

Die in der Sammlung Museum Aargau sich befindende Skulptur der «Heiligen Sippe» ist eine kunstvolle Darstellung der Verwandtschaft Jesu (sog. «Heilige Sippe»), die im späten Mittelalter sehr beliebt war. Im Zentrum sind Maria mit Krone und ihre Mutter Anna auf einem Thron zu erkennen, das Jesuskind zwischen ihnen. Anna hält ein Buch des Alten Testaments als Hinweis auf die Ankündigung des Messias. Ihre Ehemänner Joseph und Joachim flankieren die beiden Frauen: Joseph ist als Pilger mit Tasche dargestellt, Joachim – der Ehemann Annas – trägt in seiner Hand einen Granatapfel als Symbol der Fruchtbarkeit.

Die Skulptur kann als Sinnbild für ein Beziehungsgeflecht gelesen werden, das über die «Heilige Kernfamilie» Jesu hinausreicht. Heiligkeit liegt hier nicht einzig in der Vollkommenheit, sondern in der Verbundenheit: Beziehungen sind keine statischen Gebilde, sondern ein lebendiges Netz aus Nähe, Distanz, Fürsorge und Herausforderung – diese hatten auch die Dargestellten zu erleiden wie beispielsweise Joseph, der die «unerwartete» Schwangerschaft Marias nicht zu erfassen vermochte. Auch wir sind in solche Beziehungsnetze eingebunden: Familie, Freundschaften, zuweilen auch Wahlverwandtschaften. Wie wir wissen, erfordern sie allesamt Achtsamkeit, denn Beziehung bedeutet nicht Besitz, sondern ein ständiges Aushandeln von Nähe und Freiheit. Die «Heilige Sippe» erinnert uns somit daran, dass wir nur gemeinsam wachsen können, getragen von Liebe, Verantwortung und vor allem der Kunst, einander immer wieder neu zu begegnen.

Rudolf Velhagen, Chefkurator bei Museum Aargau, erkundet an dieser Stelle die verborgenen Botschaften der Dinge. Nicht weniger als 55 000 historische Objekte aus der kantonalen Sammlung warten auf ihre Befragung.