Flexionen des Alltags

EIN WALDRAPP NAMENS SHORTY

Von
Eva Seck

Die Eva-Seck-Kolumne

Es war einmal ein junger Waldrapp, die Wissenschaftlerinnen nannten ihn Shorty. Shorty war – wie alle Waldrappe – sehr widerstandsfähig. Einst verirrte sich Shorty ins Schweizer Alpenvorland und überlebte dort einen kalten Winter. Die Wissenschaftlerinnen berichten, sie hätten keine Ahnung, was er in diesem Winter gefressen habe, um zu überleben, er müsse irgendetwas gefunden haben. Ich überlege: Eine Höhle mit Eichhörnchen – Vorratsversteck? Murmeltierbabys? Vielleicht pflegte Shorty ein freundschaftliches Verhältnis zu einem Steinadler und sie teilten sich geschwisterlich die Beute. Leider, so betonen die Wissenschaftlerinnen, ergebe sich aus dieser Überwinterung ein Folgeproblem: Der Vogel sei nun auf dieses Winterquartier geprägt, werde also wieder dorthin zurückkehren und möglicherweise seine Jungvögel mitnehmen.

In einem Podcast über Waldrappe erklärt eine Biologin, dass es bereits seit dem Mittelalter keine wilden Waldrappe mehr in Europa gibt, da sie als Speisevögel beliebt waren und durch die Jagd ausgerottet wurden. Heute gebe es weltweit nur noch eine wildlebende Population, die in Marokko lebe, aber nicht mehr ziehe. Vor zwanzig Jahren habe ihre Forscherinnengruppe begonnen, Waldrappe aus dem Zoo wieder auszuwildern. Dafür haben sie ihnen die Zugroute von den Alpen in die Toskana gezeigt. Inzwischen seien sie bei 250 Waldrappen in Europa und diese seien gegenwärtig die einzige Population, die das ursprüngliche, für die Art typische Zugverhalten wieder zeige. Ich höre den Stolz in der Stimme der Biologin und dieser Stolz färbt sogar ein bisschen auf mich ab, obwohl ich nichts tue, ausser die Wäsche zusammenzulegen und zuzuhören.

Eva Seck (*1985 in Rheinfelden) schreibt Lyrik, Prosa und essayistische Texte. Ihr letzter Gedichtband «versickerungen» erschien 2022 im Verlag die brotsuppe in Biel. Sie lebt mit ihrer Familie in Basel.