Über dem Städtchen Baden tickt derzeit ein Countdown. Die Bewohner*innen zählen die Tage rückwärts. Denn bei Stunde null geht die Stadt unter. So wie sie die Aussenstehenden kennen. Sorry, aber ja, wirklich. Kein Komet, kein Beznau-Gau, keine Limmatflut – ein ganz anderes Beben bringt Baden demnächst dazu, sich aus sich selbst heraus umzuwerfen, sich zu überstülpen. Eine Eruption aus Grössenwahn, Gestaltungswillen und Feierlust. Aus der Stadt heraus entsteht eine Gegenwelt aus sonderbaren Bauten, leuchtenden Spielen, Musik und, eher früher als später, Ekstase. Diese zehntägige Fata Morgana heisst Badenfahrt. Diesmal feiert diese rätselhafte Tradition gar ihr 100-Jahre-Jubiläum.
Um das Fest mit seinen unregelmässigen, für Aussenstehende nicht nachvollziehbaren Intervallen und seiner nicht stringenten Geschichte etwas besser zu verstehen, haben wir ihm den Hauptbeitrag gewidmet. Wie war das genau vor 100 Jahren mit der «Gesellschaft der Biedermeier» oder etwas später mit der Geistigen Landesverteidigung? Zudem sprachen wir mit zwei Personen, welche die Badenfahrt von innen her kennen: Die Kulturschaffende Stella Palino und Antonina Businger, die künstlerische Leiterin der Badenfahrt, versuchen, uns den «Geist» des Festes zu erklären.
Die Badenfahrt, die vielen Festivals, die Open-Air-Kinos sind, mit unserem Hausphilosophen Foucault gesprochen, sogenannte Heterotopien. An diesen improvisierten, nicht-alltäglichen Orten wird die soziale Hierarchie verwischt, für einmal vergessen oder neu geordnet. Oft sind dann alle teilnehmenden Menschen gleich, die Zeit vergeht anders, eine neue Art von Solidarität wird gelebt. Mitunter hebt sich der Mensch in andere Dimensionen des Daseins – eben Ekstase, Freude, Lust.
Auch der Zirkus bietet einen Illusionsraum mit seinen Schlangenmenschen und Saltokünstler*innen. Wie der Circus Monti für die kommende Saison Fahrt aufnimmt, erfuhren wir bei einem Besuch in Wohlen. Wir waren am ersten Tag dabei, als sich die Artist*innen aus aller Welt zum ersten Mal begegneten. Sie werden in den kommenden Wochen ein Programm zusammen erarbeiten, das den Besucher*innen wie ein leichtes, heiteres Spiel vorkommen wird und sie den Alltag mit seinen (physikalischen und sozialen) Gesetzen für zwei Stunden vergessen lässt.
Diese Heterotopien, man ahnt es oder hat es auch schon am eigenen Leib erfahren, haben über ihre Dauer hinweg natürlich eine (Rück-)Wirkung auf das «normale» Leben. Schliesslich verlieben sich die Menschen an solchen Abenden gerne. Es gibt Geschichten von Seitensprüngen und Trennungen, alte Freundschaften werden wieder entdeckt und Feindschaften lösen sich auf. Die Welt ist danach immer ein bisschen anders – zumindest die ersten Tage nach der Badenfahrt.
Foucault geht sogar noch etwas weiter: Die Schleier der Heterotopien ziehen nicht nur bis in unseren Alltag hinein, sie entlarven unsere Normalität eben auch als Illusion, gar als die grössere, dominantere. Sie zeigen: Es ginge auch anders. Solidarisch und klassenlos, spontan und sorglos. Das ist der Zauber des Sommers. Möge er lange anhalten.
In eigener Sache: Mit grossem Bedauern mussten wir diese Tage von unserem Korrektor Märk Gut Abschied nehmen. Das gesamte AAKU-Team wünscht den Hinterbliebenen viel Kraft und Trost. Rest in Peace, Märk!