Editorial

Einfach mal das Mittelmeer wegdenken

Bisweilen ist der Mensch ja ziemlich grössenwahnsinnig. Ok, die Erfolge geben ihm recht, Pyramiden, chinesische Mauer, Assuan-Staudamm, Kernfusion, Mondlandung, Marskolonie, ewiges Leben, naja. Manche Ideen unserer Spezies haben Spuren auf der Erdoberfläche hinterlassen. Direkte Frassspuren sieht man in der Amazonasregion, oder in den Ferien auf Kroatien, wenn man in Richtung der dalmatinischen Hügel blickt. Oder im Ruhrpott, oder schlicht, wenn man aus dem Flugzeug auf das schachbrettartige Muster der Monokulturen schaut. Indirekte Spuren sind die schmelzenden Gletscher, die neuerdings grossflächig eingepackt werden, oder Mikroplastik im Wasser und in den Blutbahnen sämtlicher Erdbewohner*innen. In der Geologie werden diese Zeichen unter dem Begriff des Anthropozäns zu einem neuen Epochenverständnis zusammengeführt: Das Zeitalter des Menschen, der sich unwiederbringlich in den Planeten eingraviert.

Eine zum Glück nie realisierte Idee ist Atlantropa. In den 1930er-Jahren war Herman Sörgel, ein deutscher Ingenieur, fest davon überzeugt, man könne die aufbrandenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme Europas mit der Trockenlegung des Mittelmeeres lösen. Staudämme an der Meeresenge von Gibraltar, den Dardanellen und zwischen Tunesien, Sizilien und dem italienischen Festland hätten zu einer sukzessiven Absenkung des Meeresspiegels geführt. Strom wäre damit à gogo vorhanden gewesen (hätte es noch Kernkraftwerke gebraucht?) und eine unabhängige Machtelite an den Schaltern hätte bei jeder Bedrohung eines Staates einfach das Licht ausgeknipst, also den Hauptversorgungsstecker gezogen. Nach Sörgel wäre der Kontinent Afrika in der Folge begrünt worden und eine Bahn durch das Mittelmeerbecken von Berlin bis Kapstadt gefahren. Er ging mit seiner Idee erst bei den Nazis und später bei den Alliierten hausieren und biederte seine an sich postnationale Utopie mit dem Argument an, koloniale Verhältnisse könnten gar fortgeführt werden (sowohl die Nazis wie die Alliierten hatten für diese Rhetorik offene Ohren).*

Wäre dieses Vorhaben nicht archivisch festgehalten worden, wer würde heute glauben, der Mensch wäre je auf eine solche Idee gekommen? In diesem Heft stellen wir übrigens auch ein Archiv vor. Es befasst sich, surprise, auch mit dem Anthropozän. Die Künstlerin und Kuratorin Sadhyo Niederberger trug Werke von rund 130 Kunstschaffenden im Projekt «Reading Caspar Wolf» zusammen, die sich mit dem Verhältnis des Menschen zur Natur auseinandersetzen. Dabei ist eine inspirierende, verspielte Schau und ein ebensolches Archiv entstanden (Seite 18).

Ein anderes nie realisiertes Grossprojekt ist im Rahmen der neuen Sonderausstellung «Die gute Architektur» im historischen Museum Baden und im dazugehörigen Architekturführer zu entdecken: In den 1990er-Jahren entwarf eine Investorengruppe den «Riverfront Entertainment Complex»: eine Mischung aus Wellnessbad, Luxushotel, Einkaufszentrum und Casino – eine Melange, die ja durchaus auf Baden zutrifft, aber die Vision der Gruppe war dann doch etwas zu viel «stalinistische Zuckerbäckerarchitektur» (Seite 22).

Bei dem Ideenreichtum des Homosapiens darf man ja zuversichtlich bleiben. Es ginge jetzt wohl nur darum, diesen zu kanalisieren: Weg von Ideen, die Probleme bringen, hin zu Ideen, die Probleme lösen.

*Vgl. Pierre Rimbert: Atlantropa. Der Traum von der Trockenlegung des Mittelmeeres. Le Monde diplomatique, April 2023.