Editorial

Embrace the Madness

Von
Michael Hunziker

Der öffentliche Raum ist wieder mit Plakaten zugekleistert: Versprechungen, flache Sprüche und Menschen mit Föhnfrisuren überall. Es ist Wahlherbst. Und wir haben sprichwörtlich die Qual der Wahl. Auf den sozialen Medien öffnen die kleinen Meinungsmaschinen ihre Schleusen, à la flood the zone with shit. Jedes Alltagsschnipselchen mit Empörungspotenzial wird ausgeschlachtet, verallgemeinert, zum Problem gemacht. Wer die Kommentarspalten liest, blickt in Schächte des Grauens: Menschenfeindlichkeit, Verschwörungstheorien, Zynismus. Vielleicht ist es Hoffnungslosigkeit, die da mitschwingt. Persönliches Unbehagen, das ein Ventil in der Politik findet. Diese Stimmungen muss man ernst nehmen, auch wenn es schwerfällt. Sie sind die Nahrung für die Scheindebatten («Wokewahnsinn», «Asylchaos», «Genderwahn»). Man könnte sich an der Stelle fragen, wer verantwortlich ist für die Erosion gesellschaftlicher Werte... Follow the money. Ich denke nicht, dass es Ausländer*innen, Sozialhilfebezüger*innen und Transpersonen sind.

In dieser Ausgabe haben wir versucht, hinter den diskursiven Schleier der Migrations­ debatte zu blicken. Sie hat ja die Tendenz, vor allem über Zahlen und Kosten und über die Köpfe der Betroffenen ausgetragen zu werden. Wir haben uns mit vier Menschen vom Flüchtlingsparlament Aargau unterhalten, die Flucht am eigenen Leib erfahren haben, die in unterirdischen Unterkünften monatelang auf Asylentscheide warteten, die sich trotz gesellschaftlicher und behördlicher Hürden unermüdlich bemühen, sich zu integrieren und eine Arbeit zu finden, unabhängig zu werden. Wenn man ihnen zuhört, erhält man ein ganz anderes Bild, als das von Politik und Medien kolportierte. Wir lernten Menschen kennen mit liberalen Grundhaltungen, Demokratieverständnis und Handlungsdrang. Sie haben progressive Visionen für sich und die Schweiz. Würde man sich mit den Forderungen der Geflüchteten ernsthaft auseinandersetzen, gäbe es vielleicht weniger Fachkräftemangel, weniger Kosten, weniger Konflikte. Höchste Zeit, zuzuhören! Viele Probleme, die Lokalpolitik und Teile der Bevölkerung umtreiben, sind hausgemacht.

Hinter den Kampfbegriffen, die gerne mit Suffixen wie ­Wahn oder ­Chaos versehen werden, befinden sich dynamische, komplexe Gesellschaftsbereiche – teilweise widersprüchliche, latent offene, schwer kategorisierbare Felder. Nichts Eindeutiges. Mit Schwarz­Weiss­Denken kommt man diesen Wirklichkeiten nicht bei. Durch Abschottung und konservative Bewahrungsgesten schon gar nicht. Die Felder sind fluid, bunt und vorallem Tatsachen.

Warum sich vor Wirklichkeit verschliessen, wenn man sie auch umarmen kann. Der Soundtrack hinter diesem Gedanken liefern der Rapper Nativ und der Elektrokünstler Pablo Nouvelle: «Embrace» heisst ihr positives Album. Ihre weltoffenen Lieder, gesungen in einer Melange aus Schweizerdeutsch, Französisch und Englisch, handeln von Liebe, Freundschaft, Empathie – alles, was es für eine gute Zeit braucht.