«Es gibt keine Grenzen für künstlerische Ausdrucksformen»

Interview
Michael Hunziker

«Es braucht mehr Bewusstsein für die Gleichstellung der Tanzkunst im Kulturbetrieb»: Brigitta Luisa Merki.

Brigitta Luisa Merki wird nach 40 Jahren Engagement für Tanz im Aargau die Künstlerische Leitung von Tanz & Kunst Königsfelden an Filipe Portugal abgeben. AAKU sprach mit beiden über Erinnerungen und Visionen.

Birgitta Luisa Merki, wenn Sie auf vier Jahrzehnte zurückblicken, wie hat sich die Sparte Tanz in der Schweiz verändert?

Sie ist populärer geworden und in vielen interdisziplinären Projekten anzutreffen. Als performative Kunstform bewegt sich der Tanz heute in gesellschaftsrelevanten Kontexten und Dimensionen. Aber trotz Sensibilisierung und mehr öffentlicher Aufmerksamkeit werden die hohen Anforderungen der Berufssparte noch immer unterschätzt. Es braucht nach wie vor viel Vermittlungsarbeit und entsprechende Formate, die tänzerische und choreografische Ausbildungs- und Arbeitsprozesse sichtbar machen. Zu wünschen wäre, dass auch die Medien der Tanzkunst wieder mehr Platz einräumen.

Welches waren Ihre persönlichen Highlights in Ihrer Karriere?

Jede Première war für mich ein Höhepunkt. Künstlerische Sternstunden waren Kooperationen mit Tänzer*innen und Künstler*innen unterschiedlicher Sparten wie in «Soleá and the Winds» 1999, meiner «Orpheus-Inszenierung» 2011 mit Flamenco-Musiker*innen und klassischem und arabischem Gesang, das «Capricho Flamenco» 2015, eine Kooperation mit Martin Schläpfer’s Ballett in der Oper am Rhein in Düsseldorf. Choreografien wie «a solas y a dos», «El canto nómada», in denen ich mit dem Schriftsteller Andreas Neeser und der Dichterin Hilde Domin zusammenarbeiten durfte, und mein «feu sacré» 2019 im Kloster Fahr. Die lange Liste vereint viele künstlerische Begegnungen, die ich mit einem grossen Publikum im In- und Ausland teilen durfte. Die Anerkennung meiner künstlerischen Arbeit mit der Verleihung des Hans-Reinhardt-Rings 2004 war ein besonderes Highlight.

Gab es auch Widerstände und Hürden für Ihre Bestrebungen?

Meine «Tanzgeschichte» ist geprägt von Hürden. Ich hatte in all den Jahren immer das Gefühl, aber auch den Ehrgeiz, wieder die nächste Hürde nehmen zu müssen. Meine Ausgangssituation, im Jahr 1984 eine professionelle Flamencotanzcompagnie im Aargau zu gründen, war praktisch aussichtslos. Es gab keine Vorbilder, keine entsprechenden Referenzen. Bei null zu beginnen hat aber auch den Vorteil, dass man Mut mobilisiert, eine Eigenschaft, die für freischaffende Künstler*innen existentiell ist und einen weitertreibt. Die schwierigste Herausforderung war in all den Jahren die Finanzierung. Auch da haben sich Mut und Hartnäckigkeit bewährt. Im kontinuierlichen Dialog mit dem Kanton Aargau, dem Kuratorium, der Stadt Baden und vielen Stiftungen und Privatpersonen konnte das Ansehen für den Tanz, für die hohe professionelle Qualität und das künstlerische Unternehmen etabliert werden.

Was machen Sie danach? Bleiben Sie dem Kulturbetrieb als politische Mitstreiterin und Aktivistin bei Kulturaktiv Baden erhalten?

Als erstes mache ich ein grosses, öffentliches Abschiedsfest mit einer «Gala Surprise» am 7. Januar 2024 im Kurtheater Baden, auf der Bühne, wo alles begann. Danach sehe ich ein offenes Feld, werde viel lesen und andere Kunstprojekte geniessen. Den engagierten Aktivitäten für Kunst und Kultur bleibe ich treu. Ansonsten verlasse ich mich gerne auf ein Zitat von Hilde Domin: «Ich setzte den Fuss in die Luft, und sie trug».

Filipe Portugal, Sie hatten die letzten Monate als Choreograf bei Tanz&Kunst Königsfelden bereits die Gelegenheit, die Institution, die Sie ab Neujahr leiten werden, kennenzulernen. Was sind Ihre Eindrücke?

Es freute mich sehr, bereits 2023 als Choreograf für das Festival Tanz & Kunst Königsfelden engagiert zu sein. Ich war im gesamten Entstehungsprozess involviert, habe viel von Brigitta Luisa Merki gelernt und bin dadurch optimal vorbereitet für meine Position als neuer künstlerischer Leiter. Tanz & Kunst Königsfelden steht als Tanzinstitution seit vielen Jahren auf einem starken Fundament, das mir Sicherheit gibt, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Ich habe auch die Gewissheit, dass das Team meine Ideen gänzlich unterstützt. Seit diesem Sommer arbeite ich an den Vorbereitungen meiner künstlerischen Visionen. Ich glaube fest an die Zusammenarbeit, nicht nur im Team, sondern auch mit anderen Tanz- und Kulturinstitutionen. Gemeinsam können wir mehr erreichen für die Kunst.

Tanz als Kunstform fristet in der Schweiz ein etwas marginalisiertes Dasein. Wie könnte man das verändern?

Ich glaube, dass der Tanz definitiv mehr Unterstützung und Aufmerksamkeit verdient. Die Schweiz ist nicht der schlechteste Ort, um als Tänzer*in zu überleben. Gute Bedingungen für professionelle Tanzschaffende bereichern die Tanz- und Kunstszene. Als künstlerische Leiter*innen haben wir aber die Pflicht, das Publikum an qualitativ hochwertige Werke heranzuführen und nachhaltig für den Tanz zu begeistern. Nur durch Qualität und Kontinuität kann ein grosses und treues Publikum generiert werden, das den Tanz unterstützt und stolz ist auf ihn.

Brigitta Luisa Merki: Dem stimme ich zu. Es braucht mehr Bewusstsein für die Gleichstellung der Tanzkunst im Kulturbetrieb.

Filipe Portugal, was sind die Chancen und Risiken beim Popularisieren von Tanz? Sehen Sie sich eher als Traditionalisten oder sind Sie auch offen für die freie Szene?

Ich denke, dass es heutzutage keine Grenzen mehr gibt für neue tänzerische Ausdrucksformen. Diese Vielfalt hat sicher zur Popularisierung des Tanzes beigetragen. Als zeitgenössischer Choreograf sehe ich, dass der profes sionelle Tanz von heute ein unglaubliches Niveau an Qualität und Innovation erreicht hat. Ich engagiere mich dafür, diese neue Generation von Künstler*innen zu unterstützen, die eine neue Ära des Tanzes vorantreiben. Gleichzeitig bin ich auch begeistert vom akademischen Tanz und seiner enormen Entwicklung. Ich respektiere alle Tanzstile und bin der Meinung, dass es für alle Platz gibt.

Wo holen Sie sich Inspiration für Ihre Choreografien?

Je nach Projekt und dem, was ich ausdrücken will, lässt sich meine Inspiration von verschiedenen Aspekten ableiten. Am liebsten jedoch lasse ich mich von den Künstler*innen inspirieren, mit denen ich während einer Produktion zusammenarbeite. In erster Linie hat die Musik einen grossen Einfluss auf das, was ich meinen Tänzer*innen vorschlage. Aber der Dialog, der im Studio zwischen mir und ihnen stattfindet, gibt mir die wertvollste Inspiration und leitet mich durch den gesamten kreativen Prozess.

Worauf werden Sie in der nächsten Zeit den Fokus legen? Worauf freuen Sie sich besonders?

Wir beginnen mit dem pädagogischen Kunstprojekt, dem schweizweit einzigartigen Format, das meine künstlerische Mitarbeiterin Salomé Martins mit den Primarschulen in Gränichen durchführen wird. Danach starten wir unsere «Pre-Professionals Sommer Akademie», ein erstes neues Projekt, von dem ich glaube, dass es eine grosse Errungenschaft für die Schweizer Tanzszene sein wird. Zwölf ausgewählte Absolvent*innen aus verschiedenen professionellen Tanzschulen in der Schweiz und Europa haben die Chance, in unserem Residenzzentrum «tanz +» einen Monat in den Berufsalltag einzutauchen. In einem vollen Tagesprogramm mit professionellem Training erarbeiten sie mit internationalen Choreograf*innen unterschiedlicher Stile drei Choreografien. Danach kommt das Programm zur Aufführung mit einer kleinen Tournee. Erste Vorstellungen sind bereits im Kurtheater Baden im Sommer 2024 geplant. Ich glaube, dass dies nur der Beginn einer Reise voller Kreativität und kraftvoller Leistungen bei Tanz&Kunst Königsfelden sein wird.

BADEN Gala Surprise, Kurtheater, So, 7.Januar, 16.30 Uhr

«Ich engagiere mich dafür, eine neue Generation von Künstler*innen zu unterstützen»: Filipe Portugal.