Editorial

Geschichten im Fluss

Von
Michael Hunziker

Wir sind umgeben von Geschichten. Grossen, kleinen, lustigen, ernsten. Das ist mir während der Arbeit an dieser Ausgabe besonders aufgefallen. Geschichten erfassen uns, lassen uns handeln und hadern, gehen in unsere Körper über, wandeln mit uns. Sie schreiben sich fort, durch unsere Bewegungen und Aktionen, teilweise über Ge­ne­rationen hinweg. Lösen sich auf, verheddern sich, wechseln das Genre, stecken andere mit sich an.

Man könnte im Alltag damit anfangen, sich zu achten, wer welche Geschichten erzählt. Warum und auf welcher Basis werden etwa Stereotypen wiedergekäut (Geschlechterrollen, Fremdenfeindlichkeit)? Geschichten haben existentielle Dimensionen. Und – das darf man im Durcheinander der Stimmen nicht vergessen – es gibt wahre und falsche Geschichten.  

Geschichten aus erster Hand, aus der Perspektive derer, die etwas erlebt haben, finde ich beispielsweise glaubwürdiger, als die von Zaungästen. Unter letzteren sind solche zu verstehen, die hinter den Hecken und Hochsicherheitszäunen ihrer Anwesen im Schutze ihrer Privilegien krude Theorien über das Weltgeschehen zusammen­schustern und sie über ihre Sprachorgane, die mitunter ganze Medienhäuser umfassen, zirkulieren lassen. Das Problem an den populistischen Ideen ist, dass sie sofort Resonanz erzeugen. Es ist ein bisschen wie beim Mobbing: Die Stärkeren treten nach den Schwächsten, und die breite Masse dazwischen kuscht, biedert sich den Mächtigen an, weil sie ja schauen müssen, wo sie bleiben – Solidarität braucht Kraft.

Während der Flüchtlingstage, die Mitte Juni in verschiedenen Orten des Aargaus stattfinden, besteht die Gelegenheit, Geschichten aus erster Hand zu hören. In Aarau etwa können im Rahmen einer «Living Library» Menschen ausgeliehen werden, die etwas zu erzählen haben. Einfach nur zuhören! Es geht um die Überwindung von Zäunen und Hürden.

Der indische Künstler Swagata Bhattacharyya, derzeit Gast im Krone-Atelier Aarau, setzt sich mit Erzählungen der Macht auseinander. Er zeigt, wie die Welt aussähe, teil­weise gar aussieht, wenn ihnen keine Gegenerzählung entgegengesetzt wird. Dys­topische Bilder, die in ihrer Fiktionalität doch sehr wahr sind.

In unserem Hauptbeitrag erzählt auch ein Fluss Geschichten: Der Atrato fliesst über 750 Kilometer durch Kolumbien ins Karibische Meer. Durch eine Bürger*inneninitiative erhielt er den Status eines Rechtssubjekts. Denn das Leben an seinen Ufern war (und ist es leider immer noch) durch Krieg, exzessiven Ressourcenabbau und die damit einhergehende Umweltverschmutzung bedroht. Im Interview spricht die Anwältin und Aktivistin Ximena González über ihre juristische Strategie, mit der sie diesen Meilen­stein erreichten. Die Fotografin Juanita Escobar hat für das Stapferhaus das Leben am Atrato dokumentiert, auch sie erzählt von ihren Erlebnissen.

Es ist Frühling, die beste Zeit im Jahr, um an der eigenen Geschichte weiterzuschreiben. Vielleicht bieten unsere Anlässe in diesem Heft Anlass dazu.