Editorial

Geschmacksneutral, optimal

Von
Michael Hunziker

Einigen von Ihnen dürfte die Zeit noch lebhaft in Erinnerung sein, in der man die Hosen unter dem Hintern trug und in übergrossen Kapuzenpullis herumfläzte. Wenn man die Arme ausbreitete, sah man aus, wie ein Flughörnchen. Das Thema Fliegen war denn auch nicht weit entfernt, Stichwort: Duftsäckchen mit Hanf-Badezusatz. Mobiltelefone hiessen damals Natels, hatten die Grösse einer Autobatterie und waren schweineteuer, so dass sie sich nur jene leisten konnten, die sonst schon alles im Leben hatten. Das Nirvana-T-Shirt mit dem toten Smiley war kein leeres Modeaccessoire, sondern Ausdruck einer Haltung, und die hiess: No Future! Nicht mit uns, nicht unter diesen Bedingungen. Jugendlicher Leichtsinn halt – man durfte sich dem Weltgeschehen noch verweigern.

Wer hätte damals geahnt, dass bald das Internet als Brandbeschleuniger der Globa- lisierung um die Ecke geschossen kommt und dieses flüchtige, gewiss illusorische Träumchen vom Ende der Geschichte, weil Ende des Kalten Kriegs etc., wegblasen und uns in ganz andere, grössenwahnsinnige, bisweilen feindselige, dystopische Träume verwickeln wird? Klar, am ehesten wohl noch diejenigen mit den grossen Mobiltelefonen.

Was soll diese nostalgische Rückschau, mögen Sie sich nun fragen. Immerhin stehen wir doch gerade am Beginn des Golden Age. Im besten Fall wird diese Ära eine vierjährige Realsatire, die danach, sofern die amerikanische Verfassung nicht um- geschrieben wird, bloss als weitere Episode (bitte nicht mehr!) in die Geschichte eingehen. Und wir Aussenstehenden, wieder oder immer noch in Kapuzenpullis und Nirvana-Shirts, werden mit müden Augen hochschauen und unsere Handys weg- legen. Im Schutz des vermeintlich neutralen helvetischen Raumes wären wir wieder einmal mehr unberührt geblieben.

Das Aargauer Kunsthaus lotet in seiner neuen Ausstellung den ambivalenten Begriff der Neutralität aus. Heisst Neutralität, anything goes, solange wir Kasse machen und nicht ins Fadenkreuz geraten? Heisst Neutralität die Abwesenheit von Werten? Oder das Gegenteil, ein machtfreier, eben neutraler Raum, in dem alle gleich sind: also Grundlage für eine solidarische, auf Chancengleichheit basierende Gesellschaft? Und überhaupt, lässt sich so etwas wie Neutralität widerspruchsfrei denken? Ist Neutralität ein infantiler Reflex, à la «ke Luscht»? Die Satirikerin Patti Basler dekliniert dieses Schweizer Paradox mal durch. Herausgekommen ist bestimmt der lustigste Text, den sie bisher in diesem Jahr gelesen oder gestreamt haben.

Und auch wenn es die aktuellen Modetrends zu versprechen scheinen, ein Zurück in die 90er-Jahre gibt es nicht. Bevor wir die Zeitmaschinen erfinden, muss erst der Mars besiedelt werden. Sorry. Aber, das ist die gute Nachricht: Wir haben (noch) etwas mitzureden, sofern wir nicht «optimal geschmacksneutral» sind. Und statt dass hier eine Pointe folgt (das gab es vielleicht früher in Editorials), kommt ein Songtipp aus der Vergangenheit, die – surprise – eben immer auch aktuell ist: Das Album heisst «Auf einem Auge blöd», die Band Fettes Brot, und der Song, falls es bereits ausserhalb der Aufmerksamkeitsspanne liegt: «Optimal geschmacksneutral».