Tagebuch aus Paris von Victoria Holdt
Es ist bereits September. Die ersten Monate sind verflogen. Die Zeit verhält sich seltsam. Einerseits rast sie, andererseits scheint sie mir ausgedehnt. Elastisch. Ich koche den Hasenleim, mein Atelier riecht danach. Ich mache meine Experimente mit dem klebrigen Material und gehe raus. Muss frische Luft atmen. Um die Ecke ist ein Café und um die zweite noch eins. Ich spaziere in der Stadt und wundere mich. Was ist das für eine Textur auf diesem Gebäude? Wann wurde es erbaut? Wer hat darin gewohnt? Was sind das für Geländer? Diese Bank! Dieser Park! Dieser Brunnen! Wow, dieser Gullideckel. Der sieht aus wie eine Blume. Ich romantisiere. Ich bin auf Entdeckungsreise.
Es führt mich in das Musée d’Orsay. Ich bleibe in der Sammlung Art Nouveau stecken und staune, schaue ab. Die Objekte könnten von heute sein, sind aber über 100 Jahre alt. Lampe de table «Nénuphar», von Louis Majorelle realisiert mit der Maison Daum, was für eine Lampe! Sie scheint lebendig zu sein. Diese Bro- sche von René Lalique, wie ein Nachtfalter. Kreisch! Diese feenhaften Gläser von Jacques Gruber. Wow. So viel Kitsch auf einmal. Ich bin ekstatisch. Ich schaffe es nicht, das ganze Museum zu besuchen, mein Speicherplatz ist voll. Ich spaziere weiter etwas ziellos in der Stadt herum und komme zum Jardin du Luxembourg. Ich setze mich auf eine Bank. Paris hat sehr viele Bänke und die Leute brauchen sie, nicht nur zum Warten. Ich verweile und wundere mich, wie gross dieser Park ist. Er scheint riesig. Google sagt etwa 23 Hektar. Wahnsinn. Einer der grössten in Paris.
Ich flaniere noch etwas weiter und stosse auf die berühmte Freiheitsstatue, aber in klein, von August Barthol- di. Ich lese, dass er manchmal Malereien unter dem Pseudonym Amilcar Hasenfratz signierte. Oh, mein Hasenleimexperiment. Ich gehe zurück in die Cité, um nach dem Leim zu schauen. Ein bisschen wie ein Tamagotchi, denke ich mir, dieses digitale Haustier aus den 1990er-Jahren, um das sich die Besitzer*innen regelmässig kümmern und es auch füttern mussten, sonst ist es zu spät und es stirbt, und das Spiel fängt wieder von neuem an. Futter ... mein Magen knurrt und ich koche mir ein paar Kartoffeln und esse in der Zwischenzeit Salat. Ich schneide den Leim und bringe ihn in Form. Schon ziemlich praktisch, dieses Atelier in der Wohnung zu haben. Parallel kann ich viele Dinge erledigen. Ich räume auf, beantworte Mails, skizziere und plane. In welches Museum soll ich morgen gehen? Habe ich genug Pigmente? Wo ist der nächste Boesner? Oh, Mist, ich habe die Kartoffeln vergessen.
Zur Person
Victoria Holdt (*1992) lebt und arbeitet in Basel. Sie studierte Fine Arts in Genf und Film in Luzern. In ihrer künstlerischen Praxis untersucht sie die Verbindung zwischen Körper, Medien, Material und verschiedenen Systemen.