Der palästinensische Künstler Mahdi Baraghithi ist zu Gast im Krone Atelier Aarau. Wie kann ein Künstler arbeiten, wenn das Überleben seiner nächsten Menschen und das Fortbestehen seiner Lebenswelt in Ramallah jeden Tag aufs Neue in Ungewissheit geraten. Wir haben uns mit ihm unterhalten.
Auf der Terrasse des Café littéraire in der Stadtbibliothek Aarau trinkt Mahdi Baraghithi einen Tee, während auf der Wiese des Casinoparks sich die Menschen sonnen. Mahdi er zählt, über sein Aufwachsen, über die jüngsten Ereignisse in diesem jahrzehntelangen Krieg. Der Gegensatz zu der Unbekümmertheit auf der Wiese wird von Satz zu Satz grösser. Immer wieder drehen sich die Menschen im Café vorwurfsvoll um, wenn er Wörter wie Israel, Besatzung, Kolonialisierung sagt, weil sie dem friedlichen Aarauer Nachmittag einen unliebsamen Beigeschmack verleihen – weil man doch schweigend sein Dessert zu essen hat in einem Café und nicht in den Lärm der Welt einstimmen sollte. Es sind Sätze wie: «Die Geschichte hat uns doch gelehrt, was Kolonialismus, was Apartheid ist, warum wenden wir die Kategorien nur selektiv an, warum ziehen wir sie nicht für Palästina herbei?» Wer Mahdis Geschichte hört, die ver störenden Bilder der letzten Monate bedenkt, versteht, dass er nicht auf den Mund sitzen will, nicht hier in der neutralen Schweiz, neutral in Gänsefüsschen, weit weg möglicher Repres salien. Ohne hier in die Tiefen der Geschichte einzutauchen, es geht um das Leben eines Zivilisten, eines Künstlers, der ein kosmopolitisches, weltoffenes Leben führen möchte, das ihm aber durch die politische Lage verwehrt bleibt, für die er, wie viele andere, wahrlich nichts kann. Stattdessen: ein Leben in ständiger Ungewissheit, mit Schikanen und ein geschränkter Bewegungsfreiheit. Schon nur die Episode seiner Reise nach Aarau hört sich an wie aus einem Hollywood-Film. Doch die vielen Details, die exakte Chronologie, die Mahdis Erzählungen beinhalten, legen nahe, dass sich es leider um keine Fiktion handelt.
Der 7. Oktober kam und jeder palästinensische Mann ab 14 Jahren hätte dem israelischen Militär als Terrorist gegolten, erzählt Mahdi. Auch in Ramallah, seiner Heimat stadt, rund 100 Kilometer vom Gazastreifen entfernt. «Wir befanden uns in einer Schockstarre. Es gab Tote jeden Tag. Wir bereiteten uns vor, jederzeit von der Armee geholt zu werden. Wir liefen wie Zombies herum. Paralysiert.» Nach ein paar Wochen ging die Grenze zu Jordanien für ein paar Stunden auf und Mahdi und eine andere Künstlerin konnten nach Italien ausreisen, wo sie für eine Kunstresidenz eingeladen waren. Dort angekommen, sei er unfähig ge wesen, irgend etwas zu machen. Zu gross waren die Sorgen. «Wir sassen in unserer Unterkunft und weinten.» Als er wieder nach Ramallah zurückkehrte, hatte sich die Situation nicht beruhigt. Im Gegenteil. Selbst die Schweizer Bot schaft hatte geschlossen. Im Dezember entscheidet sich Mahdi, der Einladung nach Aarau folgen zu wollen.
Am frühen Morgen wurde er von einem Taxifahrer abgeholt, der sich mit der Situation auskannte und schon andere Personen über die jordanische Grenze nach Jericho gefahren hatte. «Doch in unserem Quartier waren plötzlich über all israelische Scharfschützen, die sich Feuergefechte mit palästinensischen Widerstandskämpfern lieferten. Wir fuhren durch die Scharmützel hindurch, bis an einen Checkpoint. Wir hielten an und ich sah überall die Suchscheinwerfer. Ich sah das Ende bereits vor mir, schliesslich sassen wir in einem verdächtigen Wagen.» Mahdi löschte sämt liche Social Media Apps auf seinem Telefon, die ihn bei einer Verhaftung wegen kritischer Posts in Bedrängnis gebracht hätten. Sie schafften es, die Grenze zu passieren und Mahdi wartete bei Verwandten in Jericho einen Monat lang auf sein Visum, das ihm die dortige Botschaft ausstellte.
Es war nicht das erste Mal, dass Mahdi einem Schusswechsel entkam. Just zwei Tage vor dem 7. Oktober wurden er und eine Freundin, als sie im Auto unterwegs waren, von Siedlern beschossen. Mahdi zeigt auf seinem Handy ein Video, auf dem zu sehen ist, wie sie kurz vor der Ausfahrt auf einer Schnellstrasse abdrehen, weil sich dort bewaffnete Siedler aufhielten, die Augenblicke später das Feuer eröffnet hätten. Die Insassen im Wagen, der hinter ihnen fuhr, seien dabei getötet worden.
Der machtsensible Künstler hat ein dialektisches Identitätsverständnis, das eng mit seinen eigenen Er fahrungen zusammenhängt: «In Israel bin ich eine Bedrohung, weil ich Palästinenser bin. In Europa, weil ich Muslim bin, in Palästina, weil ich queer bin», erzählt Baraghithi. Dass in der palästinensischen Gesellschaft etwa nur sehr enge Konzeptionen von Männlichkeit kursieren, sieht er als Folge des Krieges und der ständigen Unterdrückung. «Wenn Kinder sagen, sie wollen Widerstandskämpfer werden, dann deshalb, weil sie keine andere Wahl, weil sie alle anderen Perspektiven ver loren haben.» Die verschiedenen Rollen in der palästinensischen Gesellschaft seien nie auf eine wie auch immer geartete kulturelle Essenz zurückzuführen, sondern auf die strukturellen Bedingungen, in denen die Menschen stehen. «Als Künstler, als Schriftstellerin, als Arzt oder Anwältin – stets bist du im Überlebensmodus, im Widerstand.» Seit Mitte Januar ist Mahdi in der Schweiz und erkundet die Umgebung mit dem Velo. Vor allem die hiesigen Blumen haben es ihm angetan. Die Geranien, die Tulpen in den Vorgärten, die eine heile Postkartenwelt sug gerieren. «So etwas wie Heimat, dabei sind sie meist importiert.» Er sieht die Blumen ein bisschen wie die Neutralität. Man könne sich dahinter verstecken und unliebsame Themen wie etwa die eigene wirtschaftliche und politische Verflochtenheit im Krieg silencen.
In der Ausstellung im Forum Schlossplatz, an der er derzeit arbeitet, macht er die Erfahrungen der letzten Monate, Jahre zum Thema. Der Titel der Ausstellung (in durchgestrichenen Buchstaben: «we are fighting human animals») bezieht sich auf die entwürdigende Äusserung des israelischen Militärministers, mit der er zwei Tage nach dem 7. Oktober ankündigte, was bis heute andauert. Die komplette Belagerung und die Zerstörung der Infrastruktur in Gaza, die bereits über 34000 Todesopfer forderte.
Ein zentrales Motiv von Mahdis Arbeiten ist die Augenbinde, die die palästinensischen Gefangenen des israelischen Militärs tragen müssen. «Jegliche empathische Solidarisierung wird unmöglich, wenn man die Augen nicht mehr sieht. Die Menschen werden so systematisch dehumanisiert.» In akribischen Recherchen sucht Madhi nach Portraits der teilweise getöteten Menschen und überträgt ihre Augen in einem Druckverfahren im ikonografischen Stil der Freskenmalerei auf die weissen Baumwollbinden. In einem anderen Werkzyklus «We Are The Past and The Future» collagiert er quasireligiöse Szenen. Er be dient sich dabei an der Vielzahl der von der israelischen Armee ver öffentlichten GefangenenBildern, die zur Abschreckung der palästi nensischen Bevölkerung im Umlauf sind.
«Als Künstler möchte ich keinen moralischen Zeigefinger heben. Ich möchte nicht urteilen, sondern hinterfragen» – das fällt ihm in diesen Tagen schwer. Immer wieder fragt Mahdi sich, wie er überhaupt noch Kunst machen kann, wie er sich ästhetisch auf der dünnen Linie zwischen Aktivismus und Kunst bewegen kann, ohne sie zu überschreiten. Doch er kommt zum vor läufigen Schluss: «Ich kämpfe mit meiner Kunst.» Es sei ihm egal, ob er sich an die Konventionen des Betriebs halte. «Ich weigere mich, zu schweigen.»
AARAU Forum Schlossplatz
Vernissage, Fr, 7. Juni, 18.30 Uhr (Vernissage); bis 23. Juni