Das Stapferhaus Lenzburg eröffnet eine neue Ausstellung und trifft einmal mehr den Nerv der Zeit: «Hauptsache gesund» durchleuchtet die körperlichen, psychischen, wirtschaftlichen und sozialen Dimensionen des Themas. Wir haben uns mit Sibylle Lichtensteiger unterhalten. Es wird ihre letzte Ausstellung sein – die künstlerische Leiterin verlässt das Haus nach 25 Jahren.
Das absolute Minimum. Ich bin mit dem Velo zum Bahnhof gefahren, Treppe runter, Treppe hoch, und das Stapferhaus steht auch gleich neben dem Bahnhof – es sind also noch kaum Schritte zusammengekommen.
Nein. Wobei, auf meinem Handy hat es schon einen Schrittzähler. Wenn ich in den Bergen bin, schaue ich sogar ab und zu darauf, aber sonst eher selten.
Bei mir erhält Gesundheit, solange sie da ist, nicht wahnsinnig viel Aufmerksamkeit. Erst wenn ich mal krank bin, wird sie zu einem grösseren Thema. In meinem Alltag achte ich darauf, einigermassen gesund zu essen und ermutige mich auch selbst zu mehr Sport, was aber nicht immer ganz klappt.
Genau. Auf der Prioritätenliste steht Sport bei mir nicht zuoberst.
Wenn man eine Ausstellung zum Thema Gesundheit macht, dann wird man während der Recherche mit sehr vielen Tipps konfrontiert, was man den Menschen unbedingt mit auf den Weg geben sollte. Wir haben uns entschieden, eine Ausstellung zu machen, die keine Tipps gibt, sondern Fragen stellt.
Wir haben ein breites Publikum, und jedem Menschen den richtigen Tipp mit auf den Weg zu geben, ist schlicht unmöglich. Zudem leben wir in einer Welt, in der wir ständig umgeben sind von Tipps, von Coachingslogans und Selbstoptimierungs-Mantras. Im Stapferhaus möchten wir den Besucher*innen einen Boxenstopp ermöglichen, der es erlaubt, das Thema etwas aus der Distanz zu betrachten. Und in diesem Sinne auch über die Risiken und Nebenwirkungen, eben über die Ambiguitäten nachzudenken. Wir wollen niemandem sagen, was richtig und was falsch ist – das wäre bei diesem Thema sehr schwierig.
Aus einer individuellen Perspektive ist «Hauptsache gesund» eine sehr verständliche Aussage. Wer wünscht sich kein langes, gesundes Leben? Und tatsächlich leben wir so lange und gesund wie noch keine Generation vor uns. Auf gesellschaftlicher Ebene stellt uns dies aber auch vor gewichtige Fragen: Welchen Platz haben kranke Menschen in unserer Gesellschaft? Wer soll wie lange Zugang haben zur optimalen Gesundheitsversorgung? Und was bedeutet das aus einer globalen Perspektive?
Wir versuchen, die vielen Aspekte, die Statistiken, die Fakten, die emotionalen Aussagen von Betroffenen, die unterschiedlichen Expert*innenmeinungen in einer Erzählung zusammenkommen zu lassen. So führen wir die Besucher*innen durch verschiedene Abteilungen. Sie starten beim Empfang und im Wartezimmer, durchlaufen eine Art Untersuchung, sind mit Diagnosen konfrontiert und mit Behandlungsangeboten. Dabei stellen sich ihnen viele spannende Fragen.
Bis jetzt haben mich bei jedem Thema, das wir umgesetzt haben, die Perspektivenvielfalt, die Ambivalenzen und Ambiguitäten überrascht. Für die aktuelle Ausstellung haben wir viele ausführliche Gespräche geführt, mit Menschen, die ihre Krankheitsgeschichten mit uns geteilt haben. Diese Geschichten und das Vertrauen der Menschen berühren und begleiten durchs Leben.
Unsere Ausstellungen sollen lustvolle, unterhaltsame Komponenten enthalten, mit allen Sinnen erfahrbar sein. Das sind Aspekte, die uns beim Kuratieren wichtig sind. Die Leute sollen die Ausstellung nach zweieinhalb Stunden, die sie im Schnitt bei uns verbringen, nicht erschlagen verlassen und nicht als Hypochonder, sondern empowert und bereit, sich auf Gespräche einzulassen. Dabei arbeiten wir weniger mit Stilmitteln wie Provokation oder Ironie, sondern versuchen mit Empathie und Poesie dazu zu verführen, eine Welt zu entdecken, der man im Alltag so nicht begegnet.
Meine erste Ausstellung als feste Mitarbeiterin war «Über Sterben und Tod». Diese Ausstellung könnten wir konzep- tionell noch einmal genau gleich machen. Was bestimmt nicht mehr genügen würde, wäre die Ausstellungstechnik von damals, von der Beleuchtung bis hin zur Medientechnik. Entwickelt haben sich in den letzten zwanzig Jahren aber nicht nur die technischen Möglichkeiten, sondern auch die Erwartungen und Sehgewohnheiten des Publikums. Auch Inklusion ist wichtiger geworden: Wir bemühen uns stärker um Barrierefreiheit und setzen uns vertieft damit auseinander, welche Stimmen zu Wort kommen. Museen waren immer schon auch Orte des Ausschlusses. Hier sind wir sensibler geworden.
Wir stellen fest, dass die Polarisierung in der Gesellschaft stark zugenommen hat. Das Umfeld ist politischer geworden. Diese Entwicklungen haben uns zu unseren Wurzeln zurückgeführt. In den ersten Jahrzehnten war das Stapferhaus ja als Forum konzipiert. Die Ausstellungen hat es später eher als Mittel zum Zweck entdeckt. Wir brauchen heute zwingend wieder Orte des Dialogs, ausserhalb von Social-Media-Bubbles, wo man sich live trifft und miteinander in einen moderierten Austausch über relevante Themen kommt. Wir sehen uns im Dienst der der Demokratie. Diese Rolle hat sich sicher in den letzten Jahren nochmals akzentuiert.
Zu jedem Thema hätte man bestimmt 1000 andere Ausstellungen machen können und jede für sich wäre gut gewesen. Ich hadere nicht mit dem, was hätte anders sein können. Gewisse Publikumssegmente hätten wir punktuell vielleicht noch mehr in die Ausstellung bringen können. Den klassischen «Cis-Mann» bei der Ausstellung «Geschlecht» etwa. Das sogenannte Nicht-Publikum ist ein grosses Thema. Es ist schwierig, diejenigen ins Museum zu bringen, die denken, dass das Thema nichts mit ihnen zu tun hätte. Aber es wäre umso wichtiger und spannender, auch sie zu erreichen.
Wir haben mit rund 85 % einen vergleichsweise hohen Eigenfinanzierungsgrad. Mit eigenen Leistungen wie Eintritten, Veranstaltungen oder dem Bistro decken wir im Durchschnitt rund 45 % unserer Kosten. Die restlichen 40 % sind Drittmittel, für die wir Stiftungen, Unternehmen oder den Swisslos-Fonds als Partner gewinnen müssen. Das ist in den letzten Jahren schwieriger geworden. Da aber auch bei uns die Kosten für Personal, Energie oder IT eher steigen, sind wir sogar auf mehr Drittmittel angewiesen als früher.
Ja, genau. Unser Ziel ist natürlich, dass jeder Mensch, der mal im Stapferhaus war, auch beim nächsten Thema wiederkommt, auch wenn es ihn auf den ersten Blick nicht interessiert. Dass wir über wechselnde Themen auch wechselnde Zielgruppen haben, ist gewissermassen auch eine Chance, so wächst der Kreis unserer Bekanntheit stetig in neue Segmente. In unseren Publikumsbefragungen geben 97 % an, dass sie wegen Mundpropaganda zu uns gekommen sind. Wir haben auch nur ein kleines Budget fürs Marketing. Wir können die Schweiz nicht 18 Monate mit Werbung zupflastern. Wir sind darauf angewiesen, dass die Besucher*innen das Stapferhaus weiterempfehlen.
Im Moment fühlt es sich nicht besonders speziell an. Wir sind im Schlussspurt des Ausstellungsbaus. Da ist viel zu tun und ich habe wenig Zeit, um über etwas anderes nachzudenken. Wenn es mir zwischendurch wieder in den Sinn kommt, denke ich, wow, was für ein toller Ort, was werde ich ohne ihn bloss machen? Aber ich freue mich auch darauf, neue Wege zu gehen.
Das Team, das jetzt übernimmt, hat schon viel Erfahrung, kennt das Stapferhaus bestens und ist gut aufgestellt. Ich fände es falsch, eine offizielle Rolle im Hintergrund zu übernehmen. Ich werde aber sicher mit dem Haus und den Mitarbeiter*innen in gutem Kontakt bleiben. Zudem werde ich Mitglied im Stapferkreis, dem Freundeskreis des Stapferhauses.
Nach knapp 26 Jahren am selben Ort habe ich das Gefühl, dass ich zumindest in der nächsten Zeit eher auf mehreren Hochzeiten tanzen will. Ich habe bis jetzt nicht das Bedürfnis verspürt, mich klassisch auf eine Stelle zu bewerben.
LENZBURG Stapferhaus, ab 10. November
Die nachfolgenden kurzen Texte entstammen der Ausstellungspublikation «Hauptsache gesund? 33 Fragen – 111 Antworten».
WAS IST GESUNDHEIT?
Barbara Bleisch, Philosophin
Gesundheit wird manchmal als «transzendentales Gut» bezeichnet. Das bedeutet, dass Gesundheit eine notwendige Vorbedingung für die Möglichkeit ist, andere Güter verwirklichen oder erreichen zu können. Anders gesagt: Ohne Gesundheit können wir viele Dinge nicht oder nicht so guttun, die für ein erfülltes Leben unabdingbar sind – einer Arbeit nachgehen, Beziehungen pflegen, die Natur erkunden. Gesundheit ist deswegen nicht notwendigerweise das höchste Gut, aber sie ist von zentraler Bedeutung für ein gutes Leben. Deswegen ist eine ausreichende Gesundheitsversorgung nicht zuletzt eine Frage der Gerechtigkeit.
Gleichzeitig ist Gesundheit keine hinreichende Bedingung, dass jemand glücklich ist. Eine Person kann medizinisch gesehen vollkommen gesund und dennoch unzufrieden sein. Umgekehrt kann eine Person als krank gelten und dennoch glücklich sein. Das soll nicht bedeuten, dass Krankheit «Einstellungssache» ist. Sondern es heisst, dass Krankheit nur insofern das Glücksgefühl negativ beeinflussen kann, als dass sie mit dem subjektiven Empfinden von Leid einhergeht.
Barbara Bleisch ist Philosophin. Sie ist Moderatorin und Redaktorin bei «Sternstunde Philosophie» von SRF sowie tätig als freie Journalistin und Autorin. Ihr neustes Buch «Mitte des Lebens» erschien 2024.
WIE GEHT ES DEN MENSCHEN IN DER SCHWEIZ?
Maja Hess, Präsidentin Medico International Schweiz
Wer sind denn die Menschen in der Schweiz? Sprechen wir von Menschen, die hier geboren wurden? Über Migrant*innen aus dem globalen Süden? Über reiche oder arme, über junge oder alte Menschen? Klar, man kann sagen: Uns Durchschnittsschweizer*innen geht’s sehr gut im Vergleich zu Menschen in Syrien, Palästina, insbesondere in Gaza. Wir haben Zugang zu guter Ernährung, zu präventiver Medizin, zu einem super Gesundheitssystem. Und wir leben in Sicherheit – das ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass es einem körperlich und seelisch gut gehen kann. Wenn ich aber an andere Menschen denke, die hier leben – prekär, mit einem unsicheren Asylstatus, in beengten Verhältnissen, marginalisiert am Rand der Gesellschaft: Denen geht es gar nicht gut. Sie leiden aus den verschiedensten Gründen: Weil sie Gewalterfahrungen mit sich herumtragen, die sie krank machen; weil sie nicht wissen, ob sie aus der Wohnung fliegen, Rechnungen zahlen können oder genug zu essen haben. Kaum jemand, der hier in guten Verhältnissen lebt, würde das aushalten. Die armen Menschen sind einem riesigen und andauernden Stress ausgesetzt. Das belastet und macht krank: Bluthochdruck und Herzinfarkt, Muskelverspannungen und Schmerzen sind typische Folgen.
Maja Hess ist Psychiaterin, sie arbeitet in einer Praxis in Zürich. Als Präsidentin der Hilfsorganisation Medico International Schweiz reist sie zudem immer wieder in Krisen- und Kriegsgebiete.
WIE SCHAFFE ICH ES, GESUND ALT ZU WERDEN?
Maggie Tapert, Sex-Educator
Sport und gesunde Ernährung sind schön und gut, aber wir sollten dabei die Lust und die Freude nicht zu kurz kommen lassen. Viele Menschen neigen dazu, einem allzu perfekten Leben nachzueifern. Und dabei vergessen sie, dass Leidenschaft, Freundschaften und Gemeinschaft fürs gesunde Altwerden mindestens so wichtig sind. Ich persönlich beschäftige mich nicht gross mit der Frage, wie ich möglichst alt werden kann. Ich versuche so zu leben, dass ich die Qualität, die Freude, die Schönheit in jedem Augenblick mit jeder Faser meines Körpers erlebe. Denn die Gegenwart ist das Einzige, was wir haben – die Zukunft ist noch nicht real, die Vergangenheitist es auch nicht mehr. Nur das Hier und Jetzt zählt.
Maggie Tapert 76, ist Expertin für weibliche Sexualität.
WIE MACHEN WIR UNSER GESUNDHEITSSYSTEM FIT FÜR DIE ZUKUNFT?
Michael Graff, Ökonom
Heute wird in der Schweiz viel zu oft über die Kosten im Gesundheitswesen gesprochen und zu wenig über die Art der Finanzierung. Ja, unser Gesundheitswesen ist teuer. Aber im Vergleich mit vielen anderen OECD-Staaten sind die Kosten hierzulande nicht aussergewöhnlich. Und ein reiches Land wie die Schweiz kann sich ein gutes Gesundheitswesen bestens leisten – vorausgesetzt, die Kosten werden gerechter verteilt. Im bestehenden System der Kopfprämien werden die Kosten vor allem von den Prämienzahlenden getragen – unabhängig von ihrem Einkommen. So werden die Gesundheitskosten vor allem für Menschen mit niederen und mittleren Einkommen immer mehr zur Belastung. Zwar gibt es Prämienverbilligungen, doch die reichen bei weitem nicht aus. Auch sind in der Schweiz die Selbstbehalte besonders hoch. Nahezu nirgendwo sonst bezahlen kranke Menschen derart viel aus der eigenen Tasche. In nahezu allen anderen Ländern werden die Gesundheitskosten stärker umverteilt, stärker staatlich getragen. Lassen wir uns also von unseren Nachbarländern inspirieren und schaffen wir die hohen Selbstbehalte und die Kopfprämien ab, knüpfen wir die Krankenkassenprämien an das Einkommen und finanzieren wir das System stärker über staatliche Umverteilung. Dann hätten wir kein Finanzierungsproblem mehr und ein solidarischeres Gesundheitswesen.
Michael Graff ist Ökonom und war bis zu seiner Emeritierung Professor und Leiter des Forschungsbereichs Prognosen an der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich.