Zerbrochenes wird zu Kunst
Der Legende nach benutzte der Shogun Ashikaga Yoshimasa aus Kyoto (1436–1490) bei seiner geliebten Teezeremonie immer eine bestimmte Schale, die er allen anderen vorzog. Doch eines Tages ging sein Lieblingsgefäss zu Bruch. Der Shogun schickte die Schale nach China, woher sie stammte, damit man sie dort repariere. Als sie nach Monaten zurückkam, war sie lieblos mit Metallklammern zusammengehalten und zudem nicht wasserdicht. Da beauftragte er die besten Porzellankünstler seines Landes mit der Reparatur. Nach langem Experimentieren präsentierten sie ihm eine Teeschale, die zwar aus den Scherben der alten bestand, aber dennoch ganz und gar neu war: Die Bruchlinien hatten sie nämlich mit einer Paste zusammengeklebt, der reiner Goldpuder beigemischt war. Sie nannten die Reparaturtechnik Kintsugi. Kintsugi setzt sich aus den Wörtern kin (jap. Gold) und tsugi (jap. Verbindung) zusammen und findet auch in unseren Breitengraden, in der die Frage der Nachhaltigkeit und somit des Reparierens in den letzten Jahren an Aktualität gewonnen hat, zunehmendes Interesse. Die Kunst des Kintsugi ist auch eine Lebenseinstellung, die unter anderem die Haltung der Geduld und der Sublimation umfasst: So ist Geduld für den mehrwöchigen Reparaturprozess notwendig (ein Kintsugi-Meister hat keine Eile) und unter Sublimation versteht man, dass sich der kaputte und in unseren (westlichen) Augen nunmehr wertlose Gegenstand mit seinen goldenen Reparatur-Linien in ein einzigartiges Kunstwerk verwandelt hat. Kintsugi lehrt uns somit auf eindrückliche Weise, das Unvollkommene und scheinbar Wertlose als wertvolle Bruchstelle wahrzunehmen.
Rudolf Velhagen, Chefurator bei Museum Aargau, erkundet an dieser Stelle die verborgenen Botschaften der Dinge. Nicht weniger als 55000 historische Objekte aus der kantonalen Sammlung warten auf ihre Befragung.