In «The Journey» spannen die Musikerin Gwendolyn Masin und der Schriftsteller Lukas Bärfuss zusammen. Das veritable Crossover-Projekt aus Texten und selten gehörten Melodien ist im Kurtheater Baden zu erleben. Im Interview gewährt Lukas Bärfuss Einblicke in diese kulturelle Reise.
«The Journey» ist eine Reise durch Zeit und Raum in einem «Osteuropa» jenseits der wenigen vorgespurten Pfade. Auf der Route, die von Belarus über die Ukraine bis in die Türkei reicht, sind etwa Minsk, Odessa, Istanbul und Sarajevo Stationen. Die Melodien und Erzählungen, die Masin und Bärfuss miteinander verweben, sind kostbares Schmuggelgut, erworben entlang der kulturellen Spuren, die Musiker*innen, literarische Figuren und Menschen im Alltag, verliebt, bei der Arbeit, in Kriegen, im unsicheren Frieden oder auf der Flucht, in diesen Raum gezeichnet haben. Mit der Violinistin Gwendolyn Masin, die in Amsterdam geboren wurde, holländische, tschechische, ungarisch- jüdische Vorfahren hat, spielen das Origin Ensemble, der Zymbalist Miklós Lukács und die Band Söndörgő.
«The Journey» – der Titel des Stückes lässt Bewegung und Begegnungen erahnen.
Lukas Bärfuss: Gwendolyn Masin und ich sind uns vor einigen Jahren in Bern begegnet. Unsere Zusammenarbeit bestand in langen Gesprächen. Wir haben uns unsere Lebens- und Wandergeschichten erzählt. Gwendolyn hat eine lange Migrationsgeschichte.
Sie ist schon als Kind mit ihren Eltern, die auch Musiker*innen sind, durch die ganze Welt gereist.
Ja. Bei ihr war das eine horizontale, bei mir eine vertikale Bewegung.
Zuerst einmal durch die gesellschaftlichen Schichten, die sozialen Klassen?
Meine Reisen fanden in einem beschränkteren Raum statt. Ich konnte lange nicht reisen, weil ich kein Geld hatte. Und doch war ich immer unterwegs, von hier nach da. Ich bin nie vollständig sesshaft geworden, nirgendwo, und bis heute ist das meine Lebenshaltung geblieben. Auch dies verbindet Gwendolyn und mich stark. Dazu kommt, dass der geografische Raum zwischen Budapest, Minsk, Odessa, Istanbul und Sarajevo meine intellektuelle Bildung geprägt hat. Die Literatur und die Geschichte haben in diesem Gebiet einen zentralen Fluchtpunkt. Eines der Werke, die ich früh gelesen habe, war der Bericht von Marta Rudzka, einer polnisch-galizischen Schriftstellerin, die vom sowjetischen NKWD 1940 verhaftet und deportiert wurde, und unter anderem via Cherson und Donezk schliesslich in das berüchtigte Lager Workuta kam. Das Buch fand ich in einem Brockenhaus, da war ich 14 oder 15, und es hat sich mir eingebrannt, ein schonungsloser Bericht über das System Gulag. Mit diesem Buch ist aber eine weitere, bizarre und doch erhellende Geschichte verbunden. Auf Deutsch erschien es zuerst in einem gewissen Thomas Verlag in Zürich, der von James Schwarzenbach, dem rechtspopulistischen Vater der Überfremdungsinitiativen übernommen und geleitet wurde. Das Buch, dieser Zeugenbericht, passte in die antikommunistische Haltung Schwarzenbachs, was mich, als ich es erfahren habe, zuerst verunsicherte. Ich lernte daraus viel zur Instrumentalisierung, zur Traditionsbildung, und immer zur Frage: wie ideologisch beeinflusst ist meine Bildung? Das war eine sehr lehrreiche Lektion. Aber dann las ich ja weiter, da gibt es so viel, das geht von Bruno Schulz bis Josef Roth und Wisława Szymborska und Gombrowicz – you name them …
Das war der Ausgangspunkt?
Ja. Dieser imaginative Raum ist zentral bei «The Journey». Es ist nicht zuerst eine geografische Reise. Es geht um die Frage, wie sich unsere Vorstellung zusammensetzt. Welche Geschichten werden erzählt, welche verschwiegen? Das ist das andere grosse Thema, das mich seit vielen Monaten begleitet.
Auch auf dieser Reise, nehme ich an?
Da ist dieses No Man’s Land, dieser weisse Fleck, diese nicht zur Kenntnis genommene Wirklichkeit, gerade der Ukraine. Warum kennen wir Tschaikowski, aber nicht den ukrainischen Komponisten Mykola Lyssenko und sein herausragendes Werk? Ein Grund ist, dass die Musikgeschichte in Deutschland nach 1945 von Wehrmachtsoldaten geschrieben wurde. Zum Beispiel von Hans Heinrich Eggebrecht, dem bedeutendsten Musikologen der BRD, der hat Bände geschrieben, die in jedem gebildeten Haushalt zu finden waren. «Musik im Abendland» zum Beispiel, aber dieses Abendland, das war eindeutig nationalistisch, es war deutsch.
Die Musik aus diesem Gebiet wurde also aus der Geschichte «hinausgeschrieben». Aber nun ist Mykola Lyssenko einer der Komponisten, der bei «The Journey» zu hören ist.
Gwendolyn hat philologische Arbeit geleistet. Die ausgewählten Partituren kann man nicht im Internet runterladen. Eine Folge der nationalistischen Missachtung. Sie hat rare Musik gefunden, selten gehört und wunderschön.
Alle diese Länder, die kennen Sie auch von eigenen Reisen her?
Ja, und ich habe eine persönliche Anschauung, habe die Länder verschiedentlich bereist und dies wird in den Texten eine wichtige Rolle spielen.
Bei dieser «Journey» kommt das Wort «Migration» fast reflexartig in den Sinn. Es ist sehr geladen, wie sehen Sie das im politischen Zusammenhang?
Migration ist eine anthropologische Konstante – die Sesshaftigkeit ist später gekommen –, und sie wird nicht aus der Welt zu schaffen sein, indem man versucht, Menschen an der Migration zu hindern. Politisch müssten zwei Dinge passieren. Zuerst sollte man alles tun, um die Push-Faktoren zu reduzieren, die Gründe, weshalb Leute ihre Länder verlassen. Und zweitens müsste man eine andere Sprache entwickeln, ein anderes Bewusstsein, denn ohne Zweifel bringt jeder Mensch viele Möglichkeiten mit, viele Erfahrungen, Wissen, Kraft und Energie. Aber wir begreifen Migration immer noch zuerst als Problem, was zu Leid und Tod und zu so schrecklichen Zuständen wie in den Bundesasylzentren führt. Es ist ein Krieg gegen einzelne Menschen, der da geführt wird. Und das führt zu …
… noch mehr Krieg.
Für mich ist «The Journey» auch in einem geopolitischen Zusammenhang zu sehen, denn wir drohen alle in dieser Gewalt unterzugehen.
Woher kommt nur diese Gewalt?
Müssten wir nicht eher fragen, wie wir sie wegbekommen?
Sind Sie ein «Polteri»? «Schweizer Wut» stand als Titel über dem Spiegelartikel zur Büchnerpreisrede, «Diese gewaltige Wut» über der Rezension zu Ihrem jüngsten Buch in der FAZ.
Ich hatte nie ein solches Selbstverständnis. Wut grundiert mich nicht. Aber «ich cha scho uusfaahre». Ich mag meinen Beruf, ich mag die Menschen, ich mag mein Leben, ich wurde reich beschenkt und bin sehr dankbar. Aber es gibt vieles, das ich nicht verstehe, und mit manchem bin ich auch nicht einverstanden. Zuerst ist der Versuch, zu verstehen, und das ist mit Fragen verbunden, und – eine Frage ist immer eine Zumutung. Zentral ist die Freude. Sie ist der Götterfunke. Sie soll zuvorderst sein, die Freude an der Musik und an der Literatur und die Freude an – früher hat man das Fantasie genannt, aber leider wurde der Begriff übel beleumundet. Unsere Welt leidet an einer fürchterlichen Vorstellungsarmut. Ihr möchte ich die Fülle der manchmal schönen, manchmal schrecklichen Geschichten, den Reichtum an Erzählungen, an Musik entgegensetzen.