Unser Gedankenexperiment für den Monat März geht so: Schliessen Sie die Augen und vergessen Sie für einen Moment Ort und Zeit, also wo Sie sich gerade befinden. Wahrscheinlich geht es nun nicht lange, bis sich erste Bilder melden. Nach einer Weile beginnen sie sich unlogisch aneinander zu reihen, werden zu Visionen, dann zu Träumen, heiter, dunkel, dann öffnen sich Welten, apokalyptische, himmlische. Immer weitergehen! Sie können sich vorstellen, dass jede dieser Welten, alle Figuren, die sich in ihr Blickfeld verirren, in der Unendlichkeit von Zeit und Raum möglich sind, weil Sie es sich gerade denken. Ja, Sie reisen durch das one and only Multiversum. Sie gestalten es – oje, und gleichzeitig gestaltet es Sie.
Vielleicht ist Ihnen die Idee kürzlich schon im Kino begegnet. Vielleicht haben Sie intuitiv beim Zeitungslesen, bei einem Gespräch mit Ihren Chef*innen oder bei einem Infinitscroll am Bildschirm schon mal gedacht, dass Sie in einer Parallelwelt leben. Sie blicken in kaum nachvollziehbare Zeitkapseln voller Katastrophen, Grotesken, Tragödien und, zum Glück, auch zwischendurch in Komödien. Doch das geht alles nicht spurlos an uns vorbei, was da draussen an den Grenzen unserer Vorstellbarkeit vor sich geht. Auf unheimliche Art, die manche nicht wahrhaben wollen, hängen wir in diesem sich fortschreibenden Wahnsinn mit drin. Sie können versuchen, das Steuer in die Hand zu nehmen. Viel Erfolg. Das Chaos hat nur auf Sie gewartet, bricht über Sie hinein, wie im Film «Everything Everywhere All at Once».
Jemand, der das Chaos kennt, die Gewalt, den Wahnsinn, den Totalitarismus und ihnen entkommen ist, ist Andres Andrekson. Viele kennen ihn unter dem Namen Stress, als prominenten, erfolgreichen Rapper. Seit über zwei Jahrzehnten hören wir seine Musik in den Rotations der Radiostationen und haben keine Ahnung, durch welche Dunkelheiten er gegangen ist. Wer seine Biografie liest, sieht in ein anderes Leben, voller Verwundungen und Traumata. Und staunt über die Resilienz dieses Menschen. Derzeit ist er zusammen mit Autor Daniel Ryser auf Lesetour (S. 20).
Stress hat mit Hip Hop ein Ventil gefunden, mit dem er künstlerisch verarbeiten konnte, was er erlebt hatte und zum anderen, die möglichen Welten, an die er glaubt, zur Sprache zu bringen. Er weiss, dass sie den Terror sozialer und wirtschaftlicher Ungerechtigkeit nicht nach sich ziehen: Kein Rassismus! Keine privilegierten Multis! Kein Raubbau an unseren Ressourcen! – eine Welt, in der es allen, nicht nur wenigen, Spass macht, zu leben. Hier geht unser Experiment im Möglichkeitsraum weiter. Ort und Zeit haben wir ja schon vergessen. Jetzt stellen wir uns vor, dass wir nicht wissen, mit welcher Hautfarbe, mit welchem Geschlecht, mit welchen Gebrechen und mit welchen Talenten wir in die Welt treten, die möglicherweise da sein wird, wenn wir die Augen aufschlagen. Bloss: Wie müsste sie aussehen, damit wir die Augen je wieder öffnen?