Kolumne

Liebe Steine...

Von
Eva Seck

Flexionen des Alltags

Die riesigen Steine, die zu underten und wie zufällig geworfen in der Verzasca liegen, scheinen dich direkt anzublicken, nicht aus Menschenaugen natürlich. Aber so ähnlich, wie wenn du einen Blick im Nacken spürst und ohne hinzuschauen weisst, da ist jemand und diese Person fixiert dich. Die Quelle der Verzasca entspringt dem Pizzo Barone (ein anderer Text wäre, wer den Bergen ihre Namen gab und warum. Bis ins 19.Jahrhundert wurden Berge eher zufällig und anekdotisch mit Namen versehen, manchmal waren für denselben Gipfel verschiedene Namen in Gebrauch. Das Hochgebirge war damals noch «unproduktiv». Bis die Vermesser und Naturforscher kamen). Die Steine der Verzasca jedenfalls, manche von ihnen doppelt so gross wie ein Mensch, werden Gneis genannt und sie sind 35 Millionen Jahre alt. Vielleicht ist es das, was du spürst; die Erhabenheit des Steins und die Erhabenheit des Flusses, denn es bist nicht du, die wie hypnotisiert ins glasklare, sprudelnde Wasser starrt oder die warme Handfläche auf den kühlen Stein legt; es ist vielmehr der Stein, der dich umschliesst und es ist das Wasser, welches dich wahrnimmt, und du sagst jetzt besser hallo und neigst lieber ein wenig den Kopf, bevor du weitergehst und von einem geschliffenen Stein zum nächsten hüpfst, während du leise vor dich hinsummst: Liebe Steine, ich grüsse euch und danke euch dafür, dass die wellenförmigen Muster und Formungen auf eurer opaken Oberfläche mein Bewusstsein berühren und dass euer Flusswasser als Geräusch durch mich hindurchströmt und mich daran erinnert, Teil von etwas zu sein, was übers Mensch-Sein hinausgeht und dieses zugleich ausmacht.

Eva Seck (*1985 in Rheinfelden) schreibt Lyrik, Prosa und essayistische Texte. Ihr letzter Gedichtband «versickerungen» erschien 2022 im Verlag die brotsuppe in Biel. Sie lebt mit ihrer Familie in Basel.