Mit Alchemie gegen die Gesetze der Physik

Von
Michael Hunziker

Aus Elementen wird ein Molekül: Die internationale Gruppe findet zusammen.

Derzeit schwört sich im Circus Monti eine internationale Gruppe von Artist*innen auf Spektakel, Hochleistung und Solidarität ein. Wir waren beim ersten Zusammentreffen dabei und erhielten einen Einblick in die Entstehung des Programms.

Aufgeregte Stimmen in verschiedenen Sprachen rauschen durch den Raum. Grosse Koffer mit Akrobatikgeräten stehen vor der Bühne. Heute ist der Tag, an dem sich die Artist*innen zu ersten Mal treffen. Manche sind noch keine 24 Stunden in Wohlen. Der Jetlag eines Transatlantikflugs in den Gelenken; bis es losgeht, machen sie ein paar Lo­cke­rungsübungen – Handstand, Spagat, solche Sachen. Mario Muntwyler (26) und das gesamte Monti-Team be­grüs­sen die zwölf Neuangekommenen, unter anderem aus Neuseeland, Kanada, den USA, um die sich in den nächsten Wochen alles dreht; ja, die alles zum Drehen bringen. Ge­meinsam werden die Künstler*innen aufbrechen in ein Abenteuer – durchaus in doppeltem Sinn: Als Darsteller*innen einer Geschichte mit dem Arbeitstitel «Et voilà!» und als Hochleistungssportler*innen in einem gruppendynamischen Tour-Setting mit teilweise mehreren Aufführungen pro Tag. In circa acht Wochen ist Premiere, ein ambitioniertes Programm wartet also auf sie.

«Die Arbeitstage in den nächsten acht Wochen werden sicher länger als acht Stunden dauern», erzählt Didi Sommer, der mit Cécile Steck (gemeinsam bekannt als Duo Comedia Zap) für die Regie und das Konzept verantwortlich ist. Die beiden geben der frisch zusammengewürfelten Crew einen ersten Einblick ins Stück. An dieser Stelle sei nur soviel verraten: Es geht um einen Kunstmaler, der in einer Schaffenskrise steckt, der sich verliebt, verzweifelt und Kraft eines Clowns wieder zur Inspiration findet.

Die beiden Dramaturg*innen haben seit Februar die Idee zur neuen Monti-Inszenierung entwickelt, eine Struktur erarbeitet und sind nun gespannt, wie ihr Konzept zum Leben erwachen wird. In einem massstabgetreuen Modell haben sie die Manege, das Zelt, den Zuschauerraum nachgebaut und ihre Produktion im Kleinen durchgespielt. Die beiden führen bereits zum vierten Mal die Regie für Monti und vielleicht spricht die Bühnenerfahrung von drei Jahrzehnten aus Cécile Steck, wenn sie sagt, «wir wollen nichts dem Zufall überlassen, um uns auf Irrwege zu begeben fehlt uns schlicht die Zeit.» Das heisst aber nicht, dass bereits alles minutiös feststeht. Im Gegenteil, die Kreativität der Künstler*innen ist gefordert. Sie werden dem Stück in den vielen Details ein Gesicht geben. «Es gibt innerhalb unseres Gerüsts viele Freiheiten für die Kreativität der Artist*innen.» Und Didi Sommer ergänzt: «Wir setzen den Rahmen und öffnen gleichzeitig Spielfelder, lassen den kreativen Prozess laufen – und falls die Künstler*innen nicht weiterkommen, haben wir Notnägel.» So müssen sie als Gruppe beispielsweise zur Schaffenskrise des Kunstmalers vordringen und sein psychologisches Rätsel knacken.

Zusätzlich zur künstlerischen Erarbeitung der Show gilt es für die Artist*innen, zu einem Team zusammenzuwachsen. Einander blind vertrauen zu können, ist gerade bei einem Unternehmen wie dem Zirkus wortwörtlich existenziell. «Wir hoffen, dass wir zu einer fürsorglichen Gruppe werden, ohne Einzelkämpfer*innen, und dass die Chemie stimmt.» In der Anfangsphase steht die Gruppenbildung im Fokus: «Ein lustvolles, spielerisches Kennenlernen, indem wir eine gemeinsame Sprache finden», sagt Didi Sommer. In den nächsten Tagen werden die Rollen vergeben. Neben den spezifischen Fähigkeiten und Nummern, für die sie angestellt wurden, werden sie schauspielerisch die Geschichte um den Kunstmaler vorantreiben. «Alle werden zu Beginn alles einmal spielen und wir entscheiden dann, wer welche Rolle übernimmt», sagt Cécile Steck.

Ebenfalls vor Ort ist der Komponist Lukas Stäger. Er wird im Laufe der Vorbereitungen den Artist*innen genau auf die Bewegungen schauen und viel mit ihnen reden. Denn die musikalischen Akzente sollten wie die Kostüme auf den Leib geschneidert sein.

Blickt man in die Runde, sieht man, wie der alchemistische Prozess sich unter den Akrobat*innen bereits verselbständigt. Vor der Rohbaukulisse (einem Maleratelier) entstehen erste Menschenpyramiden, auf und neben der Bühne demonstrieren die Artist*innen einander ihre Kunst. Rosita Hendry (32) aus Neuseeland etwa dreht in einem Cyr-Rad (einem einzelnen, körpergrossen Reifen) in der Manege ihre Runden. Am Bühnenrand hat Ann Arillano (21) aus Los Angeles ihre Handstandanlage aufgebaut und macht erste Kontorsionsübungen, beugt den Rücken und stellt sich die Ferse auf den Kopf. Scheinbar mühelos, schwerelos. Auf die internationale Gruppe wartet ein abenteuerlicher Sommer, dessen Zauber bereits in diesen ersten Stunden spürbar ist. Und das Publikum kann sich auf einen Raum der Illusion freuen, in dem die Gesetze der Physik (und andere Sorgen) für zwei Stunden sistiert sind. 

«Setzen den Rahmen und lassen den kreativen Prozess laufen»: Die Dramaturg*innen Cécile Steck und Didi Sommer (Duo Comedia Zap).

Kontorsionistin Ann Arillano (21) aus Los Angeles.