Tagebuch aus London von Sunil Mann
Zwar bin ich erst seit drei Wochen hier im Atelier des Aargauer Kuratoriums in London, doch es kommt mir vor, als zerrinne mir die Zeit zwischen den Fingern. Die ersten Tage waren geprägt von langen Spaziergängen durch das Quartier ganz im Osten der Stadt, mit den verwaisten Brachen, die vermutlich bereits in Kürze mit Wohnhäusern überbaut sein werden, entlang der schier endlosen Kanäle, wo die Uhren etwas langsamer ticken und man sich wie abgekapselt fühlt von der Geschäftigkeit und dem Lärm der Metropole. Ein Gefühl für die Gegend bekommen, in der ich wohne, das war mir wichtig. Noch ist das Viertel geprägt von Einwanderern, aus Bangladesch, Indien, Pakistan, aus Polen, Rumänien und Südamerika, man erkennt es nicht zuletzt an den Lebensmittelgeschäften, an den Restaurants, die nie so glamourös sind wie im Zentrum, dafür ist das Essen authentisch und das Preis-Leistungs-Verhältnis im Lot. Bereits finden sich allerdings hie und da schicke, erst kürzlich eröffnete Lokale, die Bulldozer und Baukräne sind überall, die Stadt dehnt sich aus, Wohnraum wird dringend benötigt und was eben noch billig war, kann morgen schon unbezahlbar sein.
Das Atelier befindet sich in einer ehemaligen Feuerwehrstation, der Grundriss ist grosszügig, die Fenster lassen viel Licht herein. Tagsüber herrscht auf der Einfallstrasse vor dem Haus reger Verkehr, nachts ist es absolut ruhig. Ein Rückzugsort, an dem ich mich sehr wohl fühle, ein guter Ort auch, um an meinen Texten zu arbeiten. Drei Monate hier zu sein, ist reiner Luxus. Frei von jeglichen Verpflichtungen und Terminen kann ich es mir erlauben, mich von Ideen hinreissen zu lassen, sie aber nötigenfalls auch wieder zu verwerfen. Darum geht es mir bei meiner Arbeit: Mich ja nicht zu wiederholen, dafür immer wieder Neues ausprobieren. So entstehen nach und nach Erzählungen, die vom Leben auf dem Land erzählen, das ist das Grundthema, aber auch von der Liebe und allem, was die so mit sich bringt. Abends fahre ich dann oft ins Zentrum, Ausstellungen oder Konzerte besuchen oder noch lieber ins Theater. Anders als zu Hause, wo ich oft Veranstaltungen verpasse, zwingt mich hier die beschränkte Aufenthaltsdauer, hinzugehen. Glücklicherweise.
ZUR PERSON
Sunil Mann wurde im Berner Oberland als Sohn indischer Einwanderer geboren. Sein Psychologie- und Germanistik-Studium brach er erfolgreich ab, um als Flugbegleiter zwanzig Jahre die Welt zu bereisen. Er schrieb mehrere Kriminalromane sowie Kinder- und Jugendbücher. Er lebt und arbeitet in Zürich.