Filmstill «Them!» (USA 1954). Warner Bros.
Horrorfilme gelten als widerwärtig. Doch laut Forschern können sie die Gesundheit fördern. Das 5. Horrorfilmfestival «Brugggore» lädt zur Kur.
Eine Frau ist allein im Hotelzimmer und duscht. Ihr läuft das Wasser übers Gesicht, sie lächelt. Plötzlich erscheint hinter dem Duschvorhang die Silhouette eines Mannes. Er kommt näher, reisst den Vorhang zur Seite, sticht mit einem langen Messer auf die Frau ein. Sie schreit. Blut läuft den Abfluss hinunter. Die Frau verstummt.
Die Szene stammt aus dem berühmten Horrorfilm «Psycho» von Alfred Hitchcock aus dem Jahr 1960. «Psycho» hat das, was Horrorfilme ausmacht: Der Film spielt mit den Ängsten der Leute, er erschreckt sie, löst Unbehagen aus. In Horrorfilmen verstecken sich Clowns im Kleiderschrank, verschwinden Leute, steht ein Fremder auf der Terrasse und blickt ins Wohnzimmer. Auch wegen Horrorfilmen schliessen Leute ihre Tür ab, fürchten sich vor Schatten in der Dunkelheit, erschrecken bei ungewöhnlichen Geräuschen im Haus. Horrorfilme sind unheimlich, ekelhaft, angsteinflössend. Und sie sind beliebt, vor allem zu Halloween. Warum tut man sich das an? Was löst ein Horrorfilm bei den Zuschauer*innen aus?
Nicht nur Adrenalin-Junkies schauen Horrorfilme Der Film «Psycho» hat bei seiner Veröffentlichung empört. «Psycho» war überraschend real: Das Böse war früher eine Science-Fiction-Figur oder ein Monster, nun ist es auch eine durchschnittliche Person, schüchtern und unauffällig. Die blutige und brutale Duschszene wurde in mehreren Ländern zensiert, Psychiater*innen warnten vor dem Film, der Produzent Walt Disney bezeichnete ihn als abartig, abstossend, widerwärtig. Erfolgreich war der Film trotzdem. Oder gerade deshalb.
Der amerikanische Verhaltenswissenschafter Coltan Scrivner ist einer der bekanntesten Experten des Horrors in Film und Literatur. Scrivner beschreibt in seiner Arbeit drei Personengruppen, die Horrorfilme schauen. Die Adrenalin- Junkies: Sie geniessen den Nervenkitzel und das Gefühl der Angst. Laut Scrivner sind sie unter den Horror-Fans eine Minderheit.
Die zweite und grösste Gruppe sind die sogenannten «White Knucklers»: Leute, die sich Situationen stellen, obwohl sie dabei ein hohes Level an Angst und Stress verspüren. Sie schauen sich Horrorfilme an, um ihre Grenzen zu testen, sich herauszufordern, persönlich daran zu wachsen. Die dritte Gruppe sind die sogenannten «Dark Copers»: Sie schauen Horrorfilme, um mit fiktiver Bedrohung existenzielle Probleme und negative Gefühle zu verarbeiten. Nervöse Menschen oder solche mit Angstzuständen lenken sich durch Horrorfilme von der eigentlichen Ursache ihrer Angst ab. Sie fürchten sich lieber vor der gruseligen Clownpuppe als vor den steigenden Krankenkassenprämien. Oder wie der Horror-Autor Stephen King bereits 1981 sagte: «Wir erfinden den Horror, um mit dem echten fertigzuwerden.»
Laut dem Verhaltenswissenschafter Coltan Scrivner haben viele Horrorfans eine, wie er sie nennt, morbide Neugier. Diese Personen sind überdurchschnittlich interessiert an Verbrechen, Katastrophen, menschlichen Abgründen. Sie halten die Welt bereits für gefährlich, der Grusel im Film erschreckt sie kaum.
Laut Scrivner sind Horrorfilme für Erwachsene zudem wie ein Spiel: Sie machen neugierig, sind unvorhersehbar, überraschen. Der Reiz daran ist vergleichbar mit der Freude, die Kinder verspüren, wenn man sie jagt oder erschreckt. Aber kann das allein den Erfolg der Horrorfilme erklären? Im Film «Hostel» zahlen Männer Geld, um entführte Touristen in einem Keller zu zerstückeln. In «The Human Centipede» will ein Forscher drei Menschen an Mund und Anus zusammennähen, damit sie wie ein Hundertfüsser umherkrabbeln müssen. In «Texas Chainsaw Massacre» trägt ein Killer eine fürchterliche Maske aus Menschenhaut und tötet Leute mit einer Kettensäge. Manche Handlungen sind dermassen widerwärtig, dass man sich fragt, wie der Drehbuchautor auf die Idee kommen konnte. Und doch beschreiben viele Menschen das Horror-Erlebnis als positiv. Psycholog*innen haben herausgefunden, dass Menschen negative Gefühle besonders intensiv erleben und stärker in Erinnerung behalten. Bilder oder Filme, die negative Gefühle auslösen, werden gar als interessanter, bewegender und schöner wahrgenommen. Der schottische Philosoph David Hume nannte es das «Paradox der Tragödie». Die Zuschauer*innen geniessen den Horrorfilm also, gerade weil er negative Gefühle wie Angst oder Ekel auslöst.
Ein weiterer Grund für das positive Gefühl nach einem Horrorfilm ist das Glückshormon Dopamin. Bei Angst fluten die Stresshormone Adrenalin und Cortisol den Körper. Die Herzfrequenz sinkt und steigt kurz darauf stark an. Muskeln verkrampfen, Pupillen erweitern sich, der Atem wird intensiver, Schweiss dringt aus den Poren, der Blutdruck geht hoch. Der Körper verhält sich wie in einer realen Bedrohungslage. Wenn sie vorüber ist, fühlt es sich an, als hätte man sie gerade selbst gemeistert und überlebt. Der Körper stösst Dopamin aus: ein Rausch von Lust, Erleichterung, Euphorie. Forscher*innen vergleichen das körperliche Erlebnis eines Horrorfilms auch mit jenem einer Achterbahnfahrt oder eines Bungee-Sprungs. Der Vorteil des Films: Man kann ihn stoppen, wegschauen, davonlaufen, wenn es zuviel wird. Der Nachteil: Besonders brutale und widerwärtige Bilder bleiben im Gedächtnis und können für schlaflose Nächte sorgen. Vielleicht doch nochmals im Schrank nachschauen, ob da wirklich niemand ist?
Das Recreational Fear Lab der Aarhus-Universität in Dänemark erforscht die Bedeutung der Angst als Spassfaktor bei Freizeitaktivitäten. Etwa in Geisterhäusern oder beim Schauen von Horrorfilmen. Der dänische Literaturprofessor Mathias Clasen ist Co-Leiter des Labors. Er sagt, Horrorfilme könnten gar einen therapeutischen Charakter haben. Zuschauer*innen sammelten mit den Filmen Erfahrungen mit negativen Situationen und Emotionen, und zwar in einer Intensität, wie sie im realen Leben kaum vorkomme. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich Menschen dank Horrorfilmen mental besser auf schwierige Situationen vorbereiten können. Eine Umfrage der Universität in Chicago während der Corona-Pandemie ergab, dass Horrorfans psychisch widerstandsfähiger waren. Sie konnten besser schlafen, fühlten sich weniger gereizt, weniger ängstlich. In anderen Worten: Mit Horrorfilmen können Menschen Szenarien von Angst und Schrecken erproben. Und sie können lernen, Angstzustände zu überwinden. Auf dem eigenen Sofa, mit Popcorn und Bier.
Von Corina Gall, zuerst erschienen in der NZZ
BRUGGGORE
Wir roden die Regenwälder, populistische Politiker*innen ignorieren internationale Klimaziele, und auf den Feldern wächst längst genetisch verändertes Saatgut. Doch was, wenn die Natur genug hat? Wenn der Kipppunkt erreicht ist? Genau diesem Szenario widmet sich das fünfte Brugggore-Horrorfilmfestival in ihrem Season Special «Nature’s Tipping Point». Dazu gibt es kultige Klassiker, Schweizer Premieren, die «Official Competition» inklusive Vergabe des auf 5000 Franken dotierten «Eye of the Beholder» Publikum Awards und eine Live-Performance von Horrorfilm-Soundtracks der Schweizer Experimental-Prog-Rocker Oz Goregulu. Fünf Tage, fünfzig Filme – wir sagen: Welcome Maniacs! phn
BRUGG Odeon / Excelsior, 22. bis 26. April, Programm: brugggore.ch
Filmstill «Fright Night» (USA 1985). Columbia Pictures.
Stell dir vor, dein neuer Nachbar ist ein blutrünstig mordender Vampir – und keine*r glaubt dir. Die Polizei erklärt dich für verrückt, deine Freunde haben das Gefühl, du hättest den Verstand verloren und deine Mutter lädt den Unbekannten gar zum Hausbesuch ein. So ergeht es dem neugierigen Teenager Charly Brewster in Tom Hollands Regie-Debüt «Fright Night» (US 1985). Der brillant inszenierte Kultfilm oszilliert gekonnt zwischen Comedy und Horror, die handgemachten (und teilweise köstlich blutigen) Visual Effects unter Mitarbeit von Oscar-Preisträger Richard Edlund (Star Wars) sind schlichtweg grandios und versprühen nostalgischen 80ies-Charme – dies bei gerade einmal 9 Millionen Dollar Budget. Und da der Film in diesem Jahr sein 40-Jahr-Jubi- läum feiert, darf er bei der Retrospektive des Brugggore-Festivals keinesfalls fehlen.
Und wenn wir schon bei Genre-Klassikern sind: Freuen dürfen wir uns mitunter auch auf den postapokalyptischen Horrorstreifen «Parasite» (US 1982) mit Demi Moore in ihrer ersten Hauptrolle – und dies erst noch in 3-D. Zwar noch nicht ganz so alt, aber ebenso kultig ist Richard Kellys mit Filmzitaten gespicktes Regiedebüt «Donnie Darko» (US 2001) – ein ebenso komplexer wie mitreissender Sci-Fi-Mistery-Trip inklusive albtraumhaftem Bunny Man. Verstörend, düster und absolut sehenswert.
Von Philippe Neidhart
Filmstill «Them!» (USA 1954). Warner Bros.
Dass das Atomzeitalter nicht nur Verheissung für das bequeme Leben in amerikanischen Vorstädten bringt, sondern auch eine Kehrseite haben kann, illustriert der Film «Them!» so eindrücklich, wie es eben nur ein Horrorfilm kann. Veröffentlicht im Jahre 1954 gilt er als der genrebegründende Bug-Streifen schlechthin, in dessen Nachfolge sich das Monströse in mutierten Insekten und Spinnen zeigt. In «Them!» sind es drei Meter grosse Ameisen, die in der Wüste von New Mexico ihr Unwesen treiben und zahlreiche Menschen verschleppen und verspeisen. Auch diese Monster sind eine Pionierleistung des Films, die noch weit vor den digitalen Möglichkeiten ganz analog gebaut und bewegt wurden.
Es ist wohl kein Zufall, dass die hungrigen Mutanten gerade rund um Alamogordo aktiv geworden sind: Hier befindet sich das Testgelände für die amerikanischen Atomwaffen. Die Ameisen sind wegen der Strahlung auf Übergrösse angewachsen und verkörpern nun zum einen das Ungewisse und das Unkontrollierbare der Technologie, zum anderen aber rächen sie sich an der Menschheit, für die Ignoranz, mit der diese ihre eigene Lebensgrundlage zerstört. Das Militär macht die Höhlen der Brut aus und pumpt sie mit Gas voll, doch zwei Königinnen entwischen – ausgerechnet in die Kanalisation von Los Angeles. Nun müssen die Gardisten mit Flammenwerfern und Maschinengewehren vorrücken, gegen das Monster, das die Menschen selbst verursacht haben. Ein filmgeschichtlich bedeutender Horrorspass – mit Aktualitätsbezug.
Von Michael Hunziker
Filmstill «Grafted» (NZ 2024).
Wei leidet an einer Hautkrankheit. Dank eines Stipendiums kommt die sozial unbeholfene aber überaus clevere Chinesin zu ihren Verwandten ins neuseeländische Auckland, um dort an der renommierten Universität die Forschung ihres verstorbenen Vaters weiterzuführen: eine revolutionäre Hauttransplantationstechnik, die das Potenzial besitzt, das Gesicht der modernen Medizin zu verändern (und nebenbei ihre Krankheit zu heilen). Doch Wei hat grösste Mühe, sich in der neuen Heimat zurechtzufin- den und wird von ihrer Cousine und deren Freundinnen schlecht behandelt und aufgrund ihres Aussehens und Herkunft ausgegrenzt. Als Weis Professor dann auch noch beginnt, ihre For- schung als seine eigene auszugeben, greift sie zu drastischen Mitteln und die Gewaltspirale beginnt sich zu drehen.
«Grafted» (NZ 2024) reiht sich ein in jene Body-Horrorfilme, die sich kritisch mit femininen Schönheitsidealen, Identität und Körperkult auseinandersetzen. Dabei erschafft Sasha Rainbow in ihrem wunder- bar blutigen Regie-Debüt eine Welt voller wissenschaftlicher Intrigen, zerstückelter Körperteile, Spritzen mit rosa Schleim und scharfen Skalpellen, und wir fühlen uns unweigerlich an Werke von David Cronenberg und Takashi Miike erinnert. Den Film gibt es am Festival als Schweizer Premiere zu sehen.
Von Philippe Neidhart