Editorial

Psychoanalyse im Kinosessel

Von
Michael Hunziker

Wann haben Sie sich das letzte Mal gefürchtet? Ich meine nicht vor der allgemeinen Weltlage, dem Krieg, der Fremdenfeindlichkeit, der Wohlstandsschere, den Krankenkassenprämien, steigenden Mieten etc. Das sind alles ganz rationale Ängste. Es geht hier eher um jenes metaphysische Gruseln, das einst Mani Matter «bim Coiffeuer» erfasst hat, als er sich in die Unendlichkeit gespiegelt sah. Ein unerklärliches Schauern, das einem die Härchen aufstellt, die Hände feucht werden lässt, die Herzschlagrate hochjagt. Etwa wenn man meint, an der Bushaltestelle eine vertraute Person zu sehen, bis sie sich umdreht und uns ein fremdes, perplexes Gesicht anschaut. Oder wenn sicheine Traumpassage in der Wirklichkeit wiederholt. Oder wenn Monster aus der Mase rung des Täfers blicken. Oder wenn man im Zug sein Bein anschaut und plötzlicherkennt, das ist gar nicht mein Bein (sondern das des Gegenübers). Was genau daran furchterregend ist, bleibt uns oftmals ein Rätsel. Eben nicht rational erklärbar. Unheimlich. Aber trotzdem irgendwie mit einer Botschaft aufgeladen, die gerne entschlüsselt werden möchte.

Eine geballte, verdichtete Ladung solcher traumähnlicher Inhalte liefern uns Horrorfilme. Körpermutationen, Untote, Geister, Wahnsinn und Übersinn, andereWirklichkeitsdimensionen – hello darkness my old friend. Die Streifen ermöglichen uns eine Begegnung mit dem Inventar des Unbewussten, wo das verdrängte Materialeingelagert ist. Was uns abstösst, zieht uns gleichermassen an, das beweisen die Filme auf unterhaltsame Weise. Dass dabei Selbstgewissheiten und die vermeintliche Normalität schon mal nachhaltig durcheinandergeraten, ist ihr subversives Programm. Dasist erkenntnisfördernd. In diesem Sinne lädt das Horrorfilmfestival Brugggore in Brugg auf die Psychoanalyse-Couch, respektive in den Kinosessel. Vier Tage lang. Wer jetzt noch glaubt, keine Arachnophobie zu haben, wird danach wohl über die Bücher gehen müssen. Alles halb so wild, das Kino ist ein Schutzraum.

Ganz anders sieht es draussen aus: Der reale und echt traumatisierende Horror wütet derzeit an verschiedenen Kriegsorten. Gewisse Menschen nutzen die Gelegenheit, und verbreiten im Angesicht des Grauens auf Social Media Hetze gegenganze ethnische Gruppen. Das Gift des Zynismus und des Hasses diffundiert in die breite Gesellschaft. Die beiden Autorinnen Monica Cantieni und Bettina Spoerrihaben mit «Mensch sein | Being human, Writers against hate» eine Initiative gegründet, um diesem Klima etwas entgegenzuhalten. Mit verschiedenen Autor*innen stehensie ein für eine humane Welt, veranstalten Lesungen und Diskussionen.

Zwei Menschen, die dem Grauen des Krieges entfliehen konnten, sind Nata Smirina und Ilya Misyura aus Charkiw, Ukraine. Als Künstler*innen-Duo Astronata standen sie vor dem Durchbruch, doch dann änderte sich alles. Sie sind in Aarau gelandet und haben ihre Erfahrungen, ihre Hoffnungen in einer Musik-Performance verarbeitet, die im April in der Alten Reithalle Premiere feiert. Lernen Sie die Geschichte der beiden kennen.