Tagebuch

Rituale für Wachheit

Von
Anna Blumer

Raum, Zeit und das Momentum von Berlin: Anna Blumer recherchiert, schreibt und probt in der Deutschen Hauptstadt.

Tagebuch aus Berlin von Anna Blumer

Heute wurde ich um 6.30 Uhr von der penetranten Munterkeit meines Sohnes geweckt. Ich habe mit ihm gefrühstückt, dann haben wir mit den Autos gespielt. Die Autos mussten dem Helikopter immer Hallo sagen und dann wieder einparken, weil der Helikopter keine Fahrzeuge auf dem Dach der Tiefgarage duldete. Wir haben Feuer gelöscht, viele, im ganzen Wohnzimmer, dann hat der Rasenmäher, von Erwachsenen als grünes Formel-1-Auto gelesen, dem Feuerwehrauto ein Picknick gebracht, es gab Sandwiches, und wir, also die Autos, sassen auf dem grossen Sitzkissen mit Aussicht auf die Ebene Dielenboden. Danach musste das Sitzkissen selbstverständlich gemäht werden. Ich war ein Haifisch im Swimmingpool. Mein Sohn war ein Piranha, aber wir durften einander nicht beissen, weil das macht Angst. Mein Bericht ist jetzt schon zu lange, dabei habe ich keine Stunde dieses Sonntagmorgens beschrieben. Morgen fahre und/oder jogge ich wieder ins Atelier (wir haben als Familie eine zusätzliche Wohnung gemietet, sodass ich das Atelier ungestört nutzen kann), wo ich mich den vermeintlich seriöseren Dingen zuwende. Aber auch da gelten eigentlich ähnliche Spielregeln, wie heute mit meinem Sohn. Ich habe einen Raum und Zeit und schaue, was passiert, wenn ich mir nichts vornehme. Als Erwachsene muss ich mir mehr Struktur verordnen, da mir die Fähigkeit etwas abhandengekommen ist, einfach zu sein. Ich habe mir ein Ritual und einen zeitlichen Rahmen auferlegt, die mir helfen, im Moment zu sein, und natürlich habe ich dann doch ein vages Ziel in meinem Kopf, auf das ich indirekt zusteuere mit meinem Tun.

Ich schreibe Szenen für ein Theaterstück, recherchiere für meine Stückidee, komme über das Schreiben zu neuen Gedanken und probiere Sprache spielerisch an kleinen Versen aus. Ich habe letzte Woche eine Drehbuchautorin getroffen, um mich beraten zu lassen für ein Thema, das mich beschäftigt, und das ich in der Form eines Filmes behandelt sehe. Ich trainiere meine Wachheit, meine Durchlässigkeit mit einfachen Körperübungen, denn ein gesunder Geist und so weiter... Ich gehe in Tanzklassen, und letzte Woche war ich in einem Camera-Acting-Workshop. Dieser Text wird nicht fertig sein bevor ich, und sich nochmals verändern, weil ich heute Abend «Der geflügelte Froschgott» am Deutschen Theater Berlin gesehen haben werde.

So wirkt Berlin auch ohne mein aktives Zutun bereits, und die einfache Formel «Raum und Zeit» ist für mich als Künstlerin ein Geschenk.

ZUR PERSON

Anna Blumer (*1988, St. Gallen) ist Schauspielerin, zuletzt im Ensemble des Theater St. Gallen. Sie lebt mit Familie im Raum Aarau.