Rocking well im Rockwell

Text
Sabine Altorfer
Fotos
Benjamin Suppiger

Das Rockwell-Gebäude an der Industriestrasse in Aarau steht leer. Weil es bis zum Neubau dauert, wäre eine Zwischennutzung ideal. Das fanden die Besitzerin Mobimo, die Stadt und Kulturmenschen. Das Aarauer Pilotprojekt mit Startschwierigkeiten beginnt zu fliegen.

Der Besuch im Rockwell im Frühling 2023 ist ernüchternd. Von der Zwischennutzung, die im Frühjahr oder Sommer 2022 im Nordbau hätte starten sollen, ist nichts, aber auch gar nichts zu sehen. Die Räume für Bands und Gruppen im Untergeschoss: leer. Der Kulturstock im zweiten OG: leer. Die Halle des Wellrock im 3. Stock: leer. Fast leer. «Ein Tischli und drei Stühle haben wir, Licht auch», sagen Petra Njezic und Anouk Gyssler lachend. Sie sind zwei der acht Kollaborateurinnen von Wellrock und des Vereins Kollabs, der speziell für diese Zwischennutzung gegründet wurde. So sitzen wir zu dritt in der riesigen Halle mit ihren regelmässigen Betonstützen, die sich offen und 1750 Quadratmeter gross über das ganze Stockwerk ausbreitet. Rundum hohe Fenster und ein Panoramablick über Aarau – vom Stadionareal über die Bahngeleise zum Jura und bis zur Innenstadt. Fantastisch ist das: grosszügig und hell, offen und über vier Meter hoch. Eigentümerin ist die Immobilienfirma Mobimo Management AG. Nachdem die Rockwell 2021 ihre Produktion eingestellt hatte, stand der Sechsstöcker leer. Die Mobimo plant zwar einen Um- und Neubau mit 130 Mietwohnungen und Gewerberäumen, aber Baustart ist frühestens Mitte 2024. Sie fand deshalb, eine Zwischennutzung wäre sinnvoll. Sie liess ein Konzept entwickeln, lud im Oktober 2021 Stadtentwicklung, Kultur, Aarau Info und die Sozialen Dienste der Stadt Aarau zu einer Begehung ein, und gemeinsam wurden interessierte Nutzerinnen und Nutzer zu einem Augenschein eingeladen.

Die Gruppe von Wellrock trifft und organisiert sich. vlnr: Petra Njezic, Stephanie Amstutz (Mieterin), Lisa Strub, Joachim Huber, Kevin Sommer.

Pilotprojekt für Aarau

Melanie Morgenegg, Leiterin der Abteilung Kultur in Aarau, sah das als Chance. Heisst es in der neuen Kultur­strategie der Stadt doch: «Zur nachhaltigen Sicherung von kulturellen Räumen ist die Erstellung eines ‹Masterplan Kultur› für Arealentwicklungen und Zwischennutzungen vorgesehen.» Viel gibt es in Aarau noch nicht – und wenn, dann Privates: Auf dem Kraftwerkinseli vermietet die Eniwa ihren ehemaligen Werkhof, an der Erlinsbacherstrasse gibt es den «Prozessor». Für Morgenegg ist das Rockwell ein Pilotprojekt, sie hofft auf eine Fortsetzung. «Geeignete stadteigene Liegenschaften haben wir leider nicht.» Einzig oben in der Alten Post könnten bis zum Umbaustart einige der Wohnungen genutzt werden, beispielsweise um Künstler*innen des Cirque unterzubringen.

Begeistert von den Räumen und der offenen Ausschreibung der Mobimo sowie «dem breiten Kulturbegriff» bildete sich schnell die Gruppe Kollabs / Wellrock. «Die Kulturszene in Aarau ist überblickbar, die Kontakte sind gut», sagt Anouk Gyssler. «Man kannte sich von anderen gemeinsamen Initiativen, etwa vom Kulturstammtisch.» Die Beweggründe waren unterschiedlich: Zusammen etwas zu machen, in Gang zu bringen, zählte für die einen. Andere brauchen einen neuen Raum: «Mein Atelier im Kiff wird aufgehoben», sagt Petra Njezic.

Die Krux mit der öffentlichen Nutzung

Man startete mit grossen Erwartungen und guten Vorsätzen. Von Seiten der Kulturleute wie der Eigentümerin. «Die Mobimo Management AG wünscht sich eine Zwischennutzung, welche das Quartier durch Belebung und Vielfalt in seiner urbanen Qualität bestärkt», steht in ihrem Flyer. Die Zwischennutzerinnen sollten den Nordbau also nicht einfach nur nutzen, sondern das eher abgelegene Quartier mit Leben füllen. «Extrovertierte Zwischennutzungen» wünschte sich die Mobimo. «Denkbar sind eine einfache Bar, Probeflächen für Tanz, Theater etc., permanenter Shop- in-Shop-Secondhand-Markt, Kreativplätze für Kunst, Handwerker*innen, Indoor-Sport u.v.a.m.», heisst es in der Info der Mobimo.

Die Wellrock-Crew wollte früh damit anfangen, ein Veranstaltungsprogramm aufzugleisen. «Aber das muss man langfristig vor­bereiten, es braucht Geld, man muss beim Kuratorium früh genug Gesuche stellen … Aber wir hatten ja noch nicht mal einen Vertrag», erklärt Petra Njezic. Die geforderte Miete war der Gruppe zudem zu hoch, so handelte man mit der Mobimo eine «Gebrauchs­leihe» aus statt eines üblichen Mietvertrags. Dabei zahlt die Gruppe nur die Nebenkosten, muss aber allfällige bauliche Massnahmen selbst ausführen. «Das war viel komplizierter, als wir gedacht haben», erklären die beiden. Weil öffentliche Veranstaltungen geplant sind, gab es Auflagen. «Brandschutz, Fluchtwege, Absturzsicherung im Treppenhaus, behindertengerechtes WC – es wird schnell komplex.» Einen Leitfaden dafür oder Erfahrungen gab es nicht, die Zwischennutzer*innen hingen fest. «Eigentlich ist das Rockwell ein Vorzeigeprojekt dafür, wie man es nicht machen soll», sagt Petra Njezic dezidiert. Zum Glück sei Joachim Huber aus der Gruppe Architekt und habe die Bewilligungen mit viel Aufwand eingeholt. Und gleich für das ganze Gebäude. Das gefährliche Treppen­haus ist nun beispielsweise mit Maschendraht gesichert. Im Januar 2023 lag dann die Baubewilligung vor, im Mai wurden die Verträge unterschrieben, ab 1. Juni konnte die Zwischennutzung starten. Im Wellrock-Stock, aber auch in den Kellerräumen.

Die Malerin Petra Njezic braucht für ihre grossformatigen Gemälde Platz und eine Wand.

Der Keller für junge Bands

Die sieben Zivilschutzräume im Untergeschoss hat die Jugendarbeit Aarau gemietet, um sie an Bands und Cliquen als Übungs- und Aufenthaltsräume weiterzuvermieten. «Auch wir konnten nicht starten, bevor die Bau- und Betriebsbewilligung vorlag», sagt Christoph Rohrer, Leiter Fachbereich Kinder- und Jugendförderung der Stadt Aarau. Schade sei, dass die Zwischennutzung nun vielleicht nur ein Jahr dauere. «Aber besser als nichts, der Bedarf nach Räumen ist gross.» 18- bis 25- Jährige seien die Hauptzielgruppe, und die Miete betrage 200 Franken pro Monat, inklusive Strom, Wasser und WC-Benutzung. Den Raum dürfen sie nach den eigenen Bedürfnissen einrichten. Zudem wird die Jugendarbeit Aarau einen Raum selber nutzen, damit auch Jugendliche unter 18 Jahren erste Versuche mit Miet­räumen machen können.

Der 3. Stock für Kulturarbeit

Die Wellrock-Gruppe dagegen braucht ihre Etage sowohl für sich als Arbeitsraum wie «als experimentellen Raum für künstlerische Kollaborationen mit offenem Ausgang». So mussten sich die acht Leute einigen, wie sie den offenen Raum aufteilen. Das Prinzip ist einfach: Entlang der Fenster sind die Werk- und Arbeitsplätze, die Mitte bleibt offen, als Ort für Begegnung und Veranstaltungen. Anouk Gyssler ist nach jahrelanger Mitarbeit in der Alten Reithalle zwischennutzungserprobt. Sie will in der Nordwest­ecke ihren Schreibtisch aufstellen, Theatertexte schreiben, Aktionen planen. Die Südwestecke hat sich Petra Njezic aus­gesucht, weil es der einzige Ort mit Wand ist. «Das brauche ich als Malerin.» Doch beide denken nicht nur an dieses eine Projekt. Der Prozess, die Umsetzung der Idee Zwischennutzung war ihnen ein Anliegen. «Das Rockwell ist ein Pilotprojekt in Aarau, hoffentlich konnten wir damit für künftige Zwischennutzungen vorspuren», hofft Anouk Gyssler. Beide finden, es müsste für interessierte Kulturleute einfacher werden. Petra Njezic meint: «Die Stadt sollte konkrete Strukturen und Abläufe erarbeiten, wie man bei kulturellen Zwischennutzungen in Zukunft vorgeht und diese sichern kann.» Welche Auswirkungen das Pilotprojekt hat, wird sich zeigen, aber klar ist, das Rockwell war ein «Lehrplätz» für alle. Und die Erleichterung, dass der Betrieb doch noch rockt, ist bei allen spürbar. Die beiden Wellrock-Mitglieder sind gespannt, wie sich die gemeinsame Nutzung in einem offenen Raum einspielen wird. «Wie wird Kevin Sommers Klarinettenspiel meine Arbeit beeinflussen?», fragt sich Anouk Gyssler. Beide Wellrock-Frauen sind überzeugt, dass sie den Rank miteinander finden, dass es nicht zu hitzig wird. Vor allem im Winter ist das ja nicht zu befürchten: Wärmer als 18 Grad kann der Nordbau des Rockwell nämlich nicht geheizt werden.

Sabine Altorfer ist Kulturjournalistin. Sie arbeitete für Radio und Zeitungen, kuratierte Ausstellungen und engagierte sich in der Kulturförderung. Seit 2015 lebt sie in Aarau und ist neu Präsidentin der Neujahrsblätterkommission. Der Text stammt aus den Aarauer Neujahrsblättern 2024 (s. Box).

Benjamin Suppiger ist freier Fotograf

Vages Terrain

Aarau verändert sich. Gewollt, geplant und manchmal überraschend entsteht ein Terrain vague. Die Aarauer Neujahrsblätter 2024 erkunden, wie sich Quartiere und Werte, Arbeitswelt und Natur verändern.

Aarauer Neujahrsblätter 2024, Terrain vague, 160 Seiten, erhältlich beim Verlag Hier und Jetzt oder im Buchhandel.

AARAU Buchvernissage Aarauer Neujahrsblätter 2024, Rockwell Nordhaus, 3. Stock, Industriestrasse 28, Do, 9. November, 18 Uhr

Im Keller hat die Jugendarbeit Aarau Übungsräume für Bands gemietet.