Unterwegs

Sich tiefer und tiefer eingraben

Von
Matteo Emilio Baldi

Welch Start in den Tag: Simon Froehling in der Limmat. mb

In der Limmat mit Simon Froehling

Im Freibad Oberer Letten in Zürich sind wochentags und morgens um neun nur wenige Liegen besetzt. Ich frage mich, wo sich Schriftsteller, Dramaturg und Übersetzer Simon Froehling, mit dem ich heute verabredet bin, wohl hinlegen würde. Es ist ein Wiedersehen, das uns bevorsteht und eines, das mich offensichtlich nervös macht: Wieso soll sich von der beruflichen Vita eines Menschen auf seine Freibadliegenpräferenz zurückschliessen lassen? Die Luft ist kühl und frisch, die Besucher*innen des Bads bewegen sich nachtverhangen. Für dieses Portrait hatten wir uns bereits im Juni getroffen. Schon damals fiel es mir schwer. Bei einer Person, die so viele gemeinsame Stationen durchlaufen hat – zumindest was das literarische Schreiben betrifft – beschleicht mich stets der Verdacht, nicht die nötige analytische Distanz aufbauen zu können, um über sie zu schreiben.

Froehling war, wie ich, Teilnehmer des Bühnenautor*innen-Förderprogramms Dramenprozessor. Ebenso war er Student am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Und dort, wie ich, im Mentorat bei Ruth Schweikert. Bei unserem ersten Treffen ist dies dann auch der traurige Umstand, der ein Portrait zu diesem Zeitpunkt verunmöglicht: Ruth war wenige Tage zuvor gestorben. Die erbarmungslose Genauigkeit ihrer Lektüre schuf bei mir Schreibhemmungen; mit Froehling schien aber genau das Gegenteil zu passieren, war er doch unglaublich produktiv in dieser Zeit: Er widmete sich in den Nullerjahren hauptsächlich der Bühne, verfasste ein knappes Dutzend Stücke, übersetzte (Schweizer-)deutschsprachige Stücke ins Englische und umgekehrt. 2010 wurde sein Romandebut «Lange Nächte Tag» veröffentlicht. Das ergibt sich nicht aus einem Gespräch, sondern aus der Recherche. An jenem Junitag schweigen wir häufig, nehmen immer wieder Anläufe, ins Gespräch zu kommen, aber keine Dynamik entsteht. Die Nachricht über Ruths Tod hinterlässt uns wortkarg. Nach zwei Cappuccini sehen wir ein, dass es nicht der richtige Zeitpunkt für ein Portrait ist.

Nach seinem Erstling 2010 legte Froehling krankheitsbedingt eine Pause ein. Mit seinem Comeback «Dürrst» zeigt er die vermeintlichen Freiräume der Besetzer-, Schwulen- und Künstlerszene auf und folgt seinem Protagonisten «Dürrst» auf seinem Weg aus der bürgerlichen Welt hinaus. Dieser ist geprägt vom «Schwarzen Hund» – der bipolaren Störung des Protagonisten. Dürrst duzt sich in der Erzählung und richtet sich somit auch stets an sich selbst. Das macht die Figur wahnsinnig greifbar und führt zu eindrücklicher Intimität. Froehling wurde mit dem Roman für den Schweizer Buchpreis 2022 nominiert, welcher dann an Kim de l’Horizon ging. (Randnotiz: Kim nahm ebenfalls am Dramenprozessor teil und war ebenso in Biel und bei Ruth Schweikert im Mentorat.)

Ich besetze eine zufällige Liege. Auf einer Terrasse findet eine Yogastunde im Freien mit ausschliesslich schlanken Frauen und Chillout-Sound statt: uff, Zürich. Von der blauen Limmat her weht mir plötzlich ein so warmes und erfreutes «Matteo!» entgegen, dass alle Zweifel über die Machbarkeit eines Portraits verfliegen. Froehling löst sich von einer Gruppe anderer Schwimmer und nimmt die nächste Leiter. Er hat keinen Schwimmsack auf sich, auch scheint er sich nach keiner Liege umzuschauen. Froehling kommt hierher, um zu schwimmen, denke ich, und nicht, um sich hinzulegen! So gehen wir zusammen stromaufwärts und werfen uns ins Wasser. Er erzählt, wie sich der anfängliche Unmut über die Anfrage, ein Nachruf auf Ruth zu verfassen, durch das Schreiben zur Befreiung gewandelt hat. Ich denke an ein Interview mit Froehling, auf das ich gestossen bin, in dem er sagt, dass sich seine Schreibpraxis am besten entfalte, wenn er sich ihr regelmässig und kontinuierlich hingeben könne: «... nix Musen oder Inspiration aus heiterem Himmel ...»

Dann gehen wir wieder Cappuccino trinken. Froehling stellt mich kurz seiner Schwimmgruppe vor, mit der er sich regelmässig morgens trifft, um in den Tag zu starten. Wir setzen uns an einen anderen Tisch. Er fragt, ob das Gespräch für den Artikel eigentlich schon angefangen hätte. Ich sage ihm, dass es eine schwere Aufgabe sei, in seinem Falle zwischen journalistischem und persönlichem Interesse zu unterscheiden. Wir scheinen uns auf den seichten Einstieg geeinigt zu haben und tauschen uns vorerst über den Traum eines Häuschens in Italien aus. Froehling scheint auf pragmatische Art zu träumen und weiss über behördliche Hürden und Abläufe Bescheid, die ein solcher Kauf mit sich bringen würde. Das könnte einem den Traum madig machen, aber irgendwie lässt er dann doch alles machbar erscheinen.

«Es geht relativ schnell voran, wenn die Form und der Sound des Texts erarbeitet sind», sagt Froehling, als wir endlich doch ins Werkstattgespräch kommen und ich ihn auf seine Schreibdisziplin anspreche. Froehling mag am szenischen Schreiben die klaren Konflikte, hasst aber Geschichten, die (frei nach Virginia Woolf) «auf allen vier Pfoten landen.» Wenn meine Fragen diffus bleiben, hakt er nach, ohne dabei den Blickkontakt zu lösen und antwortet erst, wenn das Feld abgesteckt ist. Das erinnert mich an die Bieler Mentoratstreffen mit Ruth Schweikert. Ein zentrales Motiv in seiner Arbeit sei das «Sich-Verfehlen». Die Themen dazu sind das Aneinander-Vorbeikommunizieren, Gewalt und Sucht. «Es gibt Sachen, die ich in meinem Leben vielleicht viermal erzählen muss, um sie zu begreifen.» Sein Bewusstsein für die literarische Form – Froehling nennt es «seine Formstrenge» – hilft ihm beim Ergründen dieser Dinge. «Jedes Werk hat seine eigenen W Regeln», sagt er und liefert die zentrale Frage hinter dieser Poetik gleich nach: «Was will der Text?» Auch das erinnert mich unweigerlich an Ruth. Wieder zuhause angekommen, suche ich nach dem Nachruf. Er steht in der WOZ und darin schreibt Froehling: «Schreibbewegung: Immer wieder neu ansetzen, sich tiefer und tiefer eingraben.» und «Versprechen: Wir nehmen alles mit; wir schreiben dich weiter.»

ZUR PERSON

Simon Froehling (*1978) aus Brugg, ist schweizerisch-australischer Doppelbürger und lebt als Autor und Dramaturg in Zürich.