Editorial

Spukhafte Fernwirkung

Von
Michael Hunziker

In diesen Tagen fällt es schwer, der üblichen traditionellen Agenda zu folgen. Dennoch wird sie einen bald reminden: «Nimm dir Zeit, fahre Stress runter, Besinnlichkeit hoch, hol dir jetzt schon Geschenke, sonst rennst du am Ende wie ein kopfloses Huhn durch den Abendverkauf!» Die Zeichen der Zeit scheinen auf alles andere zu zeigen, als auf Weihnachten, das früher einmal das Fest der Feste schlechthin war. Mit legendären Fallouts, Generationen-Clashes und peinlichen Geschenken.

Der ganze Event hat heuer ein anderes, ein ernstes Vorzeichen erhalten. Die Probleme der Welt stehen im Vordergrund. Und das Problem ist, dass die Probleme der Welt nicht selten auch unsere Probleme sind. Wir leben noch nicht auf dem Mars. Die Folgen sind spürbar: im Hallenbad, im Nagelstudio, im Parlament, im Verein, an der Bushaltestation – generelles Unbehagen, eine diffuse Unsicherheit, bisweilen Gereiztheit. Vielleicht spüren wir die Anspannung der Menschen, die gerade irgendwo auf dem Planeten ums Überleben kämpfen, als «spukhafte Fernwirkung» (Einstein). Oder sind es die makroökonomischen Zusammenhänge, die uns auch hier böse Überraschungen bescheren? Hero, Google, Nestlé, Tamedia, CH Media, Dormakaba – den Bankensektor lassen wir mal beiseite – es steht mancherorts Stellenabbau im grossen Stil an.

«Toll, du verdirbst einem auch alles», mag man jetzt denken. Naja, weggucken geht gerade schlecht. Doch es gibt ein Hausmittel gegen den Krisenkater, aus der immateriellen Apotheke: Das Kulturprogramm in diesen Monaten bietet Gelegenheiten, mit Menschen zusammenzukommen, die einem sonst im Alltag nicht begegnen. Gemeinsam etwas erleben, etwas durchdenken, etwas durchstehen, ohne die Augen zu verschliessen. Wie in dem musikalischen Theaterabend «Der Himmel brennt» des collectif barbare. Wir haben die Schauspielerinnen Tatjana Werik und Vivianne Mösli getroffen und über das Theater in Zeiten des Krieges gesprochen. Tatjana Werik stammt aus der Ukraine und gewährt einen persönlichen Einblick in ihre Auseinandersetzung mit dem Thema.

Den meisten Kulturangeboten geht es nicht bloss um Eskapismus. Sie wollen die gesellschaftlichen Herausforderungen verhandeln, kritisieren, abstrahieren und spielerisch-kreativ für Lösungen öffnen. Themen wie Migration, Krieg, Liebe, Gerechtigkeit sind immer politisch aufgeladen und unbequem, weil sie uns mit unseren Werten konfrontieren. In dem Sinne arbeitet Kultur an der Werte-Schöpfung. Sie vermag, die zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft zumindest für einen kurzen Moment aufzuheben und Dialoge entstehen zu lassen. Ein bisschen wie an Weihnachten, einfach schön säkularisiert.

Die Frage, ob und wie die spukhafte Fernwirkung der Quanten auch Einfluss auf unsere humane Dimension hat oder ob wir Menschen eher in einem echten kausalen Zusammenhang miteinander stehen, ist natürlich ein gefundenes Fressen fürs Weihnachtsessen.

P.S. Noch in eigener Sache: Jens Nielsen, unser Kolumnist, der uns die letzten vier Jahre mit seinen vom Alltäglichen ins Groteske kippenden Texten bereichert hat, wird in dieser Ausgabe seinen (vorerst) letzten Auftritt haben – als Nashorn, aber lesen Sie selbst. Wir bedanken uns bei Jens und wünschen ihm alles Gute in der freien Wildbahn.