Tagebuch aus Nairs von Andrea Wenger
Die Zeit laufe langsamer hier.
Ich frage mich, wie das gehen soll.
Nach einem Monat fange ich an zu verstehen.
Dieser Ort ist nicht mein Zuhause, aber vieles stimmt
für mich.
Alles was hier mir gehört, ist das, was ich täglich mache. Bewege mich in einer begrenzten Zeitspanne. Verweile im Moment.
Bin Besucher der Natur und des Ortes.
Das Tosen des Inn ergreift das ganze Haus, hält es in Atem. Die Räume sind noch kalt, das Haus war über den Winter geschlossen.
Das Rauschen des Inn, die rauschende Stille.
Die vorbeirauschenden Autos.
Das Rauschen wiegt schwer, wie der Schnee vor der Haustür. Setzt sich wie ein Käfer vor das Fenster.
Stiehlt sich ins Innere, trotz geschlossenen Türen.
Das Haus liegt in einem Tal, dicht an dicht zwischen Zwei. Die Sonne und ihre Strahlen reichen Anfang Februar noch nicht zum Haus. Dafür wärmt die Pelletheizung das Haus von innen.
Ich fange an, meinen Tag mit der Sonne gemeinsam zu planen. Beobachte und interessiere mich für sie. Millimeter für Millimeter.
Ich fange an, immer um die gleiche Zeit einen Strich auf ein Blatt Papier zu machen, um den täglichen Zuwachs der Schatten im Tal zu untersuchen.
Sie stauchen sich, werden kräftiger, die Umrisse klarer.
Bin live dabei und voller Vorfreude.
Die Sonne, der Massstab meiner Zeichnungsstriche. Malen nach der Sonne.
Wie um ein Feuer versammeln wir sieben Bewohnenden uns gegen Abend in der Küche.
Jeden Abend.
Wir sind alle alleine hier. Ich geniesse die Gesellschaft.
Das ist ungewöhnlich. Ungewöhnlich gut.
Ich besitze Zeit. Zuhause rinnt sie mir eigenmächtig durch die Hände. Hier bin ich ein luftdichtes Gefäss, bereit die Zeit zu vakuumieren. Gar mit mir zu nehmen. Womöglich als Reserve für später.
Man kann nie wissen. Denke ich mir.
Andrea Vera Wenger (*1995) ist Künstlerin und Fotografin. Ihre multimedialen Arbeiten beschäftigen sich mit Fragen der Wahrnehmung und Perspektive. Von Februar bis Juni ist sie im Atelier des Aargauer Kuratoriums in Nairs.