Film

Tausendundeine Nacht in einem Kinosaal

Von
Walter Ruggle

Dieses Jahr feiert das Kino Orient an der Grenzlinie Baden-Wettingen seinen hundertsten Geburtstag. Es gehört zu den ältesten Sälen der Schweiz, die immer als Kino in Betrieb waren und es weiterhin sind. Ein kleiner Rückblick mit Ausblick.

Filmvorführungen mit Eintrittskarte gibt es seit der Projektion im «Salon Indien» des Grand Café in Paris am 28.Dezember 1895, die als Geburtsstunde des Kinos gilt. Feste Kinoeinrichtungen als Orte, an denen bewegte Bilder vorgeführt wurden, entstanden erst in den Jahren danach, als man Filme nicht mehr nur als Kuriosität betrachtete.

Es wurden Filmtempel eröffnet, welche Namen trugen, die Grösse, Himmlisches oder Märchenträume ausstrahlten: Alhambra, Apollo, Capitol, Eden, Empire, Excelsior, Palace, Rex und eben: Orient.

Der märchenhafte Name ebenso wie der Saal des Kinos Orient mit seinen Stuckaturen künden noch heute vom Stolz und der Atmosphäre der Gründerzeit. Die Anfänge dieses Kinos lassen allerdings erkennen, wie damals die Stimmung gegenüber der neuen Erfindung war: Bewegte Bilder waren eine Jahrmarktattraktion neben der zersägten Frau und dem Wahrsager. In der Region Baden war 1910 mit dem «Kosmos» ein erster Raum eingerichtet worden. Die Erwachsenen mieden den Ort, weil Filme einen schlechten Ruf hatten; die Jugendlichen liebten ihn, weil er Vergnügen versprach, etwas Verpöntes im katholischen Städtchen. Ein Kinoverbot wurde verfügt, für das es drei Jahre später eine einzige Ausnahme geben sollte, denn als anfangs der 1920er-Jahre ein Kaufmann ein zweites Kino eröffnen wollte, bekam er keine Bewilligung. Spitzbübisch wich er aufs erste Grundstück in Wettingen aus und eröffnete am 23. Oktober 1923 das Orient just an der Grenzlinie – das Haus daneben und jenes gegenüber liegen auf Badener Grund.

Dem freien Filmschaffen verschrieben

Nach den Pionierjahren mit kunterbuntem Programm übernahm die Familie Sterk das Kino und bot hier populäre Western, Gangster- und Actionfilme, was dem Orient den Beinamen «Revolverküche» bescherte. 1983 wurde der «Schweizer Film im Orient» ein ganzes Jahr lang gepflegt, und fortan gehörte der Saal zusammen mit dem damals als Kino geführten Royal zu den Arthouse-Sälen der Region Baden-Wettingen. Als sich im Frühjahr 2002 abzeichnete, dass neben dem Rio in Wettingen und dem Linde in Baden auch das Orient geschlossen werden sollte, weil mit dem Trafo in Baden fünf neue Säle aufgingen, wurde der Verein Kino Orient gegründet mit dem Ziel, das schmucke Kino mitten in Baden-Wettingen am Leben zu erhalten und mit neuem Konzept als Programmkino zu betreiben. Fortan hat sich das Orient dem freien Filmschaffen verschrieben, ergänzt es das Filmangebot mit ausgesuchten Filmen, Klassikern, Ausgefallenem, mit Live-Musik zu Stummfilmen und immer wieder auch mit Gästen, die zu Gesprächen anwesend sind und das Filmerlebnis erweitern und vertiefen. Mehr als 1300 Mitglieder tragen dieses Kinojuwel mit und tragen dazu bei, dass es eine Zukunft hat.

Kino? Zukunft? Die Pandemie und das Aufkommen des Streamings haben eigenartige Fragen provoziert und einen an die Zeiten erinnert, in der das Fernsehen populär wurde; später das Video, dann die DVD. Immer wieder war das Kino von Entwicklungen bedrängt. Seit März 2023 ist im 100-jährigen Saal des Kinos Orient eine digitale Transformation vollzogen, die die Gründer in Staunen versetzen würde. Neben der digitalen Projektion, die es seit zwölf Jahren neben der analogen gibt, sind neue Präsentationsformen möglich, Aufzeichnungen und Übertragungen. Denn die Zukunft des Kinos ist seine Gegenwart. Film ist eine Kunstform, die zwar nicht live dargeboten wird, aber doch im gemeinsamen Live-Genuss ihre vollen Reize entfaltet. Gemeinsam lachen oder heulen – oder beides – bewegt. Kinomachen bleibt etwas Magisches: Man hat einen dunklen Raum und verzaubert ihn und die Menschen in ihm mit einem Klick in eine Illusion. Das kann eine mit viel technischem Aufwand umgesetzte Fantasywelt sein, es kann aber auch eine mit einfacheren Mitteln inszenierte visuelle Reise für den Geist sein. Das Kino der Zukunft ist mehr denn je ein Ort, an dem wir uns auf eine Reise begeben und ein Stück innere oder äussere Welt erfahren oder beides zusammen. Das kann, gerade in Zeiten, in denen das reale Reisen mehr abgewogen wird, reizvoller sein denn je – gewissermassen tausendundeine Nacht im Orient.

Revolverküche: Das Kino Orient in seinen jungen Jahren.

Von Walter Ruggle, Filmkritiker, ehemaliger Direktor der Stiftung Trigon Film und Programmverantwortlicher Kino Orient.