Unterwegs

Umstürze zwischen Riesen und Ameisen

Von
Michael Hunziker

«Schreiben an sich ist ja ein absurdes Unterfangen»: Der «Wanderschriftsteller» René Frauchiger im Garten des Müllerhauses Lenzburg.

Unterwegs mit René Frauchiger

Das Müllerhaus Lenzburg ist der Ausgangspunkt für unseren Spaziergang mit dem Autor René Frauchiger. Der Weg führt uns vom Schreibtisch des Literaturhaus-Büros, der eigentlichen Werkstätte Frauchigers, in die Vorstellungs- und Figurenwelt seiner Romane, über Stationen seines persönlichen Werdegangs, der auch eine Art Emanzipationsgeschichte ist, zurück zum Schreibtisch. Hinter den Vorhängen zeichnet sich das ferne Schloss Lenzburg ab, von allen Seiten bewegen sich Bücherwände auf uns zu – schon nur die Szenerie verspricht eine Heldenreise.

Als Autor ist man zwangsläufig mit Riesen konfrontiert: grosse Vorbilder, grosse Werke – eine Mächtigkeit, die einen erstarren lassen kann. Von eigenen megalomanen Schöpfungen und Ideen ganz zu schweigen. Hindernisse überwinden, Wagnisse eingehen: «Schreiben an sich ist ja ein absurdes Unterfangen», wie Frauchiger bemerkt. «Wann ist man ein Autor, wann ist das Schreiben gerechtfertigt? Das sind Fragen, die einen bis über die erste Publikation quälen können.» Am Literaturhaus Lenzburg organisiert Frauchiger verschiedene Schreibwerkstätten, für Erwachsene und auch für Kinder. Denn das Schreiben in Gruppen helfe und motiviere, den eigenen Weg fortzuschreiten, fortzuschreiben. Zusammen über Texte reden, sie sich gegenseitig vorlesen: das trägt zur Textqualität bei und fördert das Selbstverständnis, relativiert die Zweifel.

«Wenn ein Text nicht scheitern kann, interessiert er mich nicht. Er muss für mich ein Wagnis sein.»

René Fruchtiger

Bereits als Zwölfjähriger wusste René Frauchiger, dass er Schriftsteller werden will. Aufgewachsen als Arbeiterkind im ländlichen Madiswil im Oberaargau, war die Literatur für ihn eine Möglichkeit, aus dem kleinen Dorf mit der grossen Welt in Kontakt zu treten: Alexandre Dumas, Friedrich Dürrenmatt, Jorges Luis Borges. Drei Riesen, deren wildes, abwegiges Erzählen den jungen Frauchiger beeindruckt. Ein Ton, in dem er sich geborgen fühlt und der auch heute in seinen eigenen Texten anklingt. Als Teenager beginnt ervselbst zu schreiben, versucht sich an einem Filmdrehbuch, arbeitet an einem immer weiter ausufernden Romanprojekt, nimmt an Schreibwettbewerben teil. Von der Frage «bin ich gross und gut genug, um ein Buch zu schreiben», lässt er sich nicht paralysieren. Er gründet zusammen mit anderen Literaturbegeisterten 2011 «Das Narr», ein Literaturmagazin, das ihm und anderen jungen Autor*innen aus der Region eine Publikations- und Experimentierplattform bietet. Das Magazin ist mittlerweile mehrfach preisgekrönt und hat einen festen Platz in der Szene. Im Moment bereitet Frauchiger «seinen eigenen Umsturz» als Herausgeber vor, eine junge Generation ist eingeladen, das Magazin zu übernehmen.

Bis die ersten Schreibversuche fruchten werden, bis er aus den gewohnten Pfaden seines Umfelds ausgebrochen ist, legt Frauchiger noch einen ziemlichen Weg zurück: KV-Lehre, dann Berufsmatur, dann Erwachsenenmatur, dann erst Studium. Deutsche Philologie und Philosophie in Basel. Dazwischen und daneben: Arbeit in Büros, im Service, als Operateur in einem Kino. Die Eltern waren stets in Sorge, ob seine Vorhaben auch zu etwas führen werden. Dass man mit so etwas wie Literatur und Sprache seinen Lebensunterhalt verdienen konnte, war für sie schwer nachvollziehbar. Doch, doch, das geht: Nach dem Studium arbeitet Frauchiger als Journalist bei der Berner Zeitung, als Berufsschullehrer, als Audiopädagoge für Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung und an der Uni als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einem Kollokationen-Wörterbuch und einem Flurnamenbuch mit.

Vor vier Jahren ist René Frauchigers erster Roman «Riesen sind nur grosse Menschen» erschienen. In den skurrilen Episoden legen sich die Figuren mit dem Erzähler an, weisen seine Ausführungen zurück, kehren ihm den Rücken, brechen sich los, verselbstständigen sich. Der zweite Roman «Ameisen fällt das Sprechen schwer», seit ein paar Monaten erhältlich, erzählt die Geschichte eines Mannes, der eines Tages ohne Gedächtnis erwacht und sein Büroleben gewissermassen neu kennenlernt und aus der daraus resultierenden Distanz neu bewertet. An diesem Projekt hat Frauchiger beinahe zehn Jahre gearbeitet. Sein Schreiben gleicht einem Abenteuer, bei dem Irrläufe dazugehören. «Wenn ein Text nicht scheitern kann, interessiert er mich nicht. Er muss für mich ein Wagnis sein. Sonst müsste ich gar nicht schreiben. Kommt er zu einem Ende oder nicht?» Derzeit arbeitet er parallel an fünf verschiedenen Textsträngen, wovon «einige wohl im Nirgendwo verlaufen.» Wohl nicht nur deshalb nennt sich Frauchiger einen «Wanderschriftsteller.» Stundenlang spaziert er durch die Stadt (Basel), weithinaus in die Peripherie – die allmähliche Verfertigung der Idee beim Denken, im Gehen – bis er weiss, wohin sich der Text in den nächsten Etappen bewegen soll. «Manchmal komme ich auch nur müde nach Hause. Aber wenigstens einen Satz versuche ich dann doch zu schreiben.» Umwege ergeben Stoff.

Frauchigers Arbeit im Literaturhaus erlaubt ihm, Beruf, Schreiben und Familie unter einen Hut zu bringen: Montag ist Vatertag, dann ist er nur für seine kleine Tochter da, an den anderen Wochentagen versucht er morgens zu schreiben und an den Nachmittagen und Abenden organisiert er Werkstätten und Anlässe für das Literaturhaus. Hier sitzt er, an seinem Schreibtisch, umringt von Büchern, während im ganzen Haus verteilt an diesem Nachmittag Jugendliche an ihren Geschichten feilen. Im Rahmen der Begabtenförderung «Atelier Litera» kämpfen sie vielleicht mit Riesen, auf jeden Fall schreiben sie sich los, in ihre eigene Welt. Denn Frauchiger weiss: «Das Schreiben ist immer auch Ausbruch.»

Unterwegs mit ...

Unsere Autor*innen machen sich mit Kulturschaffenden auf den Weg und reden dabei übers Leben, philosophieren übers Schaffen und denken über die Zukunft nach.

ZUR PERSON

René Frauchiger ist in Madiswil aufgewachsen. Studierte Deutsche Philologie und Philosophie in Basel, wo er derzeit mit Familie lebt. Kürzlich ist sein zweiter Roman «Ameisen fällt das Sprechen schwer» erschienen.