Nata Smirina und Ilya Misyura bilden zusammen das experimentelle ukrainisch-russische Musikduo Astronata. Sie versuchen in Aarau, den Krieg hinter sich zu lassen. Der Aufbau eines neuen Lebens erfordert auch die Auseinandersetzung mit sich und ihrem Selbstverständnis als Musiker*innen.
Nata Smirina und Ilya Misyura lebten in Charkiw, als der russische Angriff auf die Ukraine begann. Sie arbeiteten an drei verschiedenen Musikprojekten, wollten nach der Pandemie endlich wieder durchstarten. Zu Beginn konnten
sie es gar nicht glauben, dass der Krieg, vor dem alle gewarnt hatten, tatsächlich ausgebrochen und bei ihnen angekommen war. Dass es doch nicht nur russische Propaganda gewesen war. Dass die Explosionen, die sie seit Tagen hörten und sahen, wirklich Bomben waren. «Wir packten unsere Sachen und flohen für zwei Monate nach Lwiw», erzählt Nata Smirina, die es mit ihrer Musik in der Underground-Szene der Ukraine zu grosser Bekanntheit gebracht hat. Nach einem kurzen Aufenthalt im Westen des Landes entschlossen sie sich schliesslich, die Chance, die sich ihnen zufällig bot, zu nutzen: Eine Freundin hatte auf Instagram Kontakt zu einer Familie in Aarau, die anbot, vorübergehend Ukrainer*innen aufzunehmen. «Wir wollten unser Land nicht verlassen, aber der ständige Luftalarm und die spürbare Bedrohung machten uns psychisch kaputt. In so einer Situation wirst du zurückgeworfen auf dich selbst und den puren Überlebenswillen», so Nata Smirina. Da ihr Partner, der Musikproduzent und Songwriter Ilya Musyura, die russische Staatsbürgerschaft besitzt, durfte auch er das Land als Flüchtender verlassen.
Nach ein paar herausfordernden Monaten in Aarau, die sie bei zwei Familien verbrachten und in denen sie sich stets willkommen, aber nie zu Hause fühlten, erhielt Ilya Misyura die Gelegenheit, als wissenschaftlicher Assistent an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) zu unterrichten. «Eigentlich hatte ich mir nach meinem Durchbruch als Musikproduzent geschworen, nie wieder auf meinem ursprünglichen Beruf zu arbeiten», lacht er. Er sei aber extrem dankbar für den Job an der FHNW und er mache ihm richtig Spass. Mit seinem Lohn war es für das Paar schliesslich möglich, eine Wohnung zu mieten. «Wir setzten uns auf den Boden des noch leeren Wohnzimmers und fühlten uns endlich zu Hause», erinnert sich Nata Smirina.
«Wir setzten uns auf den Boden des noch leeren Wohnzimmers und fühlten uns endlich zu Hause.»
Kennengelernt hatten sich die zwei über die Musik. Sie verliebten sich und Ilya zog 2019 zu Nata nach Charkiw. Sein Heimatland vermisse er nicht. «Russland existiert für mich nicht mehr.» Er habe Glück gehabt als Kind mit seiner Lehrerin. Die habe ihn kritisches Denken gelehrt. «Etwas, mit dem Nata aufwachsen durfte, das für uns in Russland aber nicht selbstverständlich ist», sagt Ilya Misyura. Trotz der vielen Unterschiede zwischen der Ukraine und der Schweiz fühlen sich die Musikschaffenden wohl hier.
Es brauchte dazu allerdings eine Eingewöhnungsphase, in der sie vieles hinterfragten. «Auch wenn es hier länger dauert, bis ein Musikprojekt verwirklicht ist, liegt mir die Schweizer Art. Ich bin ebenfalls ein Planer, habe alles gern schriftlich und bin pünktlich», lacht Ilya Misyura. Und Nata Smirina sagt: «Ich merkte schnell, dass es mir kaum möglich sein wird, hier von meiner Musik zu leben. Es ist halt alles anders. Jetzt werde ich mich auf die Veränderungen einstellen. Ich bin sicher, dass alles gut wird.»
Träume und Pläne, die sich ändern, weil ein Leben eine unerwartete Kehrtwendung nimmt: Darüber haben Nata Smirina und Ilya Misyura als «Astronata» nun eine Musik-Performance mit gefühlvollem elektronischem Sound und mit Tanz erarbeitet, die am 20.April in der Alten Reithalle Aarau Premiere feiert und den Titel «Spotlight» trägt. «Ursprünglich wollte ich einfach meine Erfahrungen als Musikerin und Künstlerin auf die Bühne bringen. Aber nach und nach wurde mir bewusst, dass die Performance viel mehr ist. Dass das, was mich bewegt, auch andere bewegt: Nicht nur ich als Künstlerin, sondern alle möchten glücklich, geliebt und verstanden sein», so Nata Smirina. Sie hatte schon lange den Wunsch, so ein Projekt zu verwirklichen. Und auch Ilya Misyura freut sich auf die Vorführungen. Trotz seiner grossen Erfahrung – er komponiert u.a. Filmmusik und arbeitet für diverse Projekte, etwa mit der Siegerin des ESC 2016 zusammen – ist die Performance für ihn eine Premiere.
Obwohl Nata Smirina und Ilya Misyura eine grausame Erfahrung im Rücken haben, gehe es ihnen im Stück nicht explizit um den Krieg, wie es bei einem ukrainisch-russischen Duo zu erwarten wäre, sind sich die Sängerin und der Musikproduzent einig. Das Stück drehe sich thematisch um uns alle, um unsere ähnlichen Erfahrungen und «Spotlights».
AARAU Alte Reithalle, Sa, 20. April, 20 Uhr (Premiere); So/Di, 21./23. April, 20 Uhr