«Unser Leben wird in Augenblicken entschieden»

Interview
Reinhold Hönle
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Jonathan Labusch

Pippo Pollina lädt im Kurtheater zur intimen Retrospektive auf 40 Jahre Musikerleben.

Nur mit Gitarre und Klavier: Pippo Pollina ist mit seinem neuen Album «Nell’Attimo» solo auf Tournee. Der Cantautore blickt auf eine über dreissig jährige, bewegte Musikerkarriere zurück. Im Badener Kurtheater kreiert er analoge Augenblicke, gegen die Rastlosigkeit der multimedialen Welt.

Weshalb haben Sie den Albumtitel «Nell’Attimo» gewählt?

Alles geschieht «im Augenblick». Angesichts der lauten und aufdringlichen digitalen Welt, in der wir uns bewegen, und der ständigen Verbindung mit dem Entfernten sowie der wachsenden Distanz zum Nahen, verspüre ich umso mehr die Notwendigkeit, meine Gefühle und Gedanken in nicht viel weniger als einem Augenblick auszudrücken – den drei, vier Minuten eines Liedes.

Wie sind die zwölf Lieder entstanden?

Zuerst wollte ich ein «Best of»-Album aufnehmen, zwölf Songs aus meinem grossen Repertoire solo neu interpretieren. Zunächst ging ich jedoch in den Ferien nach Italien, wo ich am ersten Tag ein Lied schrieb. Ich dachte, ich würde es als Bonus-Track aufs Album nehmen, doch dann entstand an jedem der zwölf Tage ein neues Lied. Darauf entschied ich mich, sie anstelle der alten Songs aufzunehmen, und zwar in einer einfachen Besetzung: Gitarre oder Piano, dazu etwas Cello, Klarinette und Akkordeon, fertig. Alles in klaren, transparenten Arrangements, bei denen die Stimme ganz vorne steht und die Texte gut zur Geltung kommen.

Und nun touren Sie wieder solo?

Ja, ich will wieder einmal ganz allein auftreten, ohne einen einzigen Instrumentalisten, wie ich es letztmals vor 23 Jahren gemacht habe. Und das Gefühl haben, mit den Leuten – egal, ob es hundert oder tausend sind – in einer Stube zu sitzen und für sie eine Runde Lieder zu singen. Nach fünf Konzerten in grösseren Schweizer Städten werde ich später auf kleineren Bühnen vor nur 150 oder 200 Leuten spielen.

Wie sieht Ihr Programm aus?

Es wird eine Retrospektive auf 40 Jahre meiner Musik, und bestimmt ein lustiger Abend. Ich werde zu den Liedern Geschichten erzählen und viele alte Filme und Fotos zeigen, welche die Menschen, die mich schon länger begleiten, an Episoden aus ihrem Leben erinnern dürften.

Viele Ihrer Lieder berühren, sind aber nur schwer oder teilweise zu entschlüsseln. Sind Sie der italienischsprachige Bob Dylan?

Ich hoffe es nicht, weil ich ihn nicht mag! (Lacht) Ich möchte mich jedoch auf keinen Fall mit ihm vergleichen. Schliesslich hat er den Nobelpreis gewonnen.

Welches ist Ihr poetischer Anspruch?

Die Form muss hervorragend sein. Die Dichtung muss klingen, wenn man sie rezitiert. Wenn auch der Inhalt stimmt, ergibt sich daraus ein grösseres Ganzes. Wahre Poesie enthält darüber hinaus ein Geheimnis, das weder das Publikum, noch der Dichter kennt. (Lacht).

Wie entscheiden Sie sich beim Songschreiben zwischen Gitarre und Piano?

Das mache ich sehr intuitiv, wobei sich das Klavier eher für Balladen und die Gitarre für temperamentvollere Lieder eignet. Da ich klassische Gitarre studiert habe, beherrsche ich sie besser als das Pianospielen, welches ich autodidaktisch erlernt habe und wo ich noch auf die Tasten schauen muss.

Was hat Sie zum Lied «La Strada» inspiriert?

Unser Leben wird in den Augenblicken entschieden, in denen wir auf unserem Weg an eine Weggabelung kommen, an der wir manchmal innert Sekunden entscheiden müssen, ob wir links oder rechts abzweigen. Manchmal spüren wir schon, dass diese Entscheidung unser Leben verändern wird, aber ganz oft treffen wir sie, ohne dass uns ihre Bedeutung bewusst ist.

Können Sie ein Beispiel aus Ihrem Leben machen?

Mit 22 beschloss ich, beim Jurastudium in Palermo eine Pause einzulegen und drei Monate als Strassenmusiker durch Europa zu reisen. Das hat mein Leben komplett verändert. Wenn ich dabei nicht Linard Bardill kennengelernt hätte, wäre ich nicht hier.

Was ist damals passiert?

Er hat mich gehört, als ich in der Luzerner Fussgängerzone spielte, sprach mich an, und fragte mich bei einem Kaffee, ob ich Lust hätte, auf ein paar Songs des Albums, das er gerade aufnahm, die zweite Stimme zu singen.

Was bedeuten Ihnen die Konzerte mit Konstantin Wecker, die Sie im Sommer in Basel und Luzern geben werden?

Wir feiern mit ihnen, dass wir seit dreissig Jahren befreundet sind. Konstantin ist ein grossartiger Künstler, der mich ich meinen jungen Jahren einlud, mit ihm auf Tournee zu gehen und Lieder zu schreiben, darunter «Questa nuova realtà». Seither bin ich im ganzen deutschen Sprachraum bekannt und kann 80 Prozent meiner Konzerte im Ausland geben.

Erfolgreich unterwegs sind auch Ihre Kinder Julian und Madlaina, die als Faber und Steiner & Madlaina aus Ihrem Schatten herausgetreten sind. Wie haben sie das geschafft?

Sie haben starke Persönlichkeiten. Ich zweifelte nie daran, dass sie ihre eigene Ästhetik entwickeln würden. Beide haben schon sehr früh Lieder geschrieben, in denen sie ihre eigenen musikalischen Universen entwarfen. Das ist beeindruckend und mit ein Verdienst ihrer Mutter Christine, die ihren Freigeist gefördert hat.

MIT DER KRAFT DER STIMME UND DER POESIE

Pippo Pollina wurde am 18. Mai 1963 in Palermo geboren. Anfangs der 80er-Jahre musizierte er mit der Folkgruppe Agricantus und engagierte sich als Journalist im Kampf gegen die Mafia. Seit 1990 lebt er in Zürich, von wo aus der Cantautore mit der kraftvollen Stimme, die auch leise kann, zuerst den deutschsprachigen Raum und dann auch seine Heimat Italien eroberte, wo er im Dezember mit seinem ersten Kriminalroman «Der Andere» auf einer ausverkauften Lesetournee war. Mit der Veröffentlichung des Albums «Nell’Attimo» zu Beginn dieses Jahres und der anstehenden Tournee, die Pollina am 2.März ins Badener Kurtheater führt, steht die Musik wieder im Mittelpunkt. rhö

BADEN Kurtheater, Sa, 2.März, 20 Uhr