Flexionen des Alltags

VERLANGEN NACH MEHR

Von
Eva Seck

Die Eva-Seck-Kolumne

In der Zeitung lese ich, dass der Januar dieses Jahres der wärmste jemals gemessene Januar war, mit einer globalen Temperatur von 1.75 Grad über dem vorindustriellen Niveau. Dies ist überraschend, denn eigentlich wurden wegen des aktuellen Wetterphänomens La Niña tiefere Temperaturen prognostiziert. Nichtsdestotrotz erleben wir Rekordtemperaturen. Aber was bedeuten diese Zahlen und Sätze? Sie sind weder fühl- noch fassbar, auch wenn anderswo der Verlust des Lebensraums schmerzhaft, tödlich und real ist. Ein Gefühl für ebendiesen Lebensraum fährt mir beim Lesen des Buches «Umlaufbahnen» von Samantha Harvey sanft, aber beharrlich in die Glieder, während die Körper der Protagonist*innen fremdartig schwerelos im All schweben. In ihrer Weltraumkontemplationsprosa begleitet Harvey sechs Astronaut*innen, die in ihrer Raumstation in 90 Minuten einmal die Erde umrunden; sechzehnmal in vierundzwanzig Stunden. Ihre malerischen Beschreibungen der Erde sind schwindelerregend schön. Und dort draussen im All, Hunderte Kilometer von der Erde entfernt, «erkennen sie die Politik des Hungers. […] Der Planet ist von der schier unglaublichen Kraft des menschlichen Verlangens geformt, die alles verändert hat: die Wälder, die Pole, die Wasserspeicher, die Gletscher, die Flüsse, die Meere, die Berge, die Küstenlinien, die Himmel. Ein Planet, vom Verlangen geprägt und gestaltet.» Anders als ein trockener Zeitungsartikel ist dieser Roman eine poetische Reflexion über die Verletzlichkeit der Erde. Wird jenes Verlangen jemals gestillt sein? Das Buch hält keine Antwort parat, dafür aber eine Liebeserklärung auf unseren geteilten Planeten.

Eva Seck (*1985 in Rheinfelden) schreibt Lyrik, Prosa und essayistische Texte. Ihr letzter Gedichtband «versickerungen» erschien 2022 im Verlag «die brotsuppe» in Biel. Sie lebt mit ihrer Familie in Basel.