Editorial

Vom Drama der jagenden Meute

Von
Michael Hunziker

Beim Erscheinen dieses Hefts dürfte das Fussballfieber bei manchen noch nicht abgeklungen sein. Ja, die eine oder der andere wähnt sich vielleicht gar in einem Märchensommer oder in einem Sommernachtsträumchen. Das ist doch das Schöne beim Fussball, für irgendjemanden geht immer ein Wunsch in Erfüllung. Nun hat sich kürzlich wieder einmal gezeigt, dass der Ballzirkus doch mehr ist als ein Spiel und blosse Triebabfuhr der «kaltgestellten Masse»* (im Hinblick auf das Publikum). Frankreich etwa steuert auf der grossen Nebenbühne auf ein Endspiel zu: Neuwahlen des Parlaments, nachdem die Rechtskonservativen eine Mehrheit für das Europaparlament erreicht haben.

Wie hängt das nun zusammen? Nun, das Turnier heisst bekanntlich Europameisterschaft. Es geht also irgendwie auch um dieses Europa, in dessen Parlament paradoxerweise ziemlich viele Kräfte sitzen, die es am liebsten abschaffen würden. Ihre politischen Haltungen und Visionen sind gerade dabei, den Realitätscheck zu verlieren. Denn die EM zeigt uns eine demografisch multikulturelle Wirklichkeit. Die Teams sind so vielfältig wie die Gesellschaften und sie funktionieren als solidarische Kollektive.

Und jetzt wird es existenziell: Diese Gruppen führen für uns «das Drama der jagenden Meute»** auf, zeigen unsere Ohnmacht gegen die Zeit, in der wir mit limitierten Mitteln ein Ziel verfolgen (limitiert, weil die Hände nicht gebraucht werden dürfen), und das Ganze erst noch unter der elenden Willkür des Zufalls (auch Chaos genannt). Eine universelle Geschichte. Wie die Spieler*innen auf dem Feld, so steht doch auch der Mensch im Leben. Um das zu überstehen, braucht er Freundschaften und Solidarität innerhalb der Gesellschaft, die er sich nicht ausgesucht hat.

Obwohl die Funktionäre der Uefa dem Spiel auch noch das letzte Fünkchen Politik austreiben wollen (Protestaktionen werden herausgeschnitten, nur genehme Bilder gelangen in die Kanäle), haben es französische Spieler geschafft, trotz ihres Lebens voller Privilegien ihre Plattform zu nutzen und Politik zu thematisieren. Allen voran Kylian Mbappé. Er rief die jungen Menschen auf, wählen zu gehen, sich für Vielfalt, Toleranz und Respekt einzusetzen und sich gegen die Ideen der gesellschaftlichen Spaltung (das Fieber des Rechtskonservatismus) zu wehren. Mit seiner teuren Uhr und seinen ruhig vorgetragenen Worten erinnerte er an einen Diplomaten. Er mahnte, «wir befinden uns in einem entscheidenden Moment in der Geschichte ... die Extremen stehen vor den Toren der Macht – wir haben die Möglichkeit, die Zukunft unseres Landes zu bestimmen.» Er möchte verständlicherweise kein Land repräsentieren, das nicht seinen Werten entspricht. Es ist also wieder mal soweit, die Kultur (und Fussball gehört dazu) erinnert uns daran, was wir sind und sein könnten. Selbst Märchenfiguren wie Taylor Swift äussern sich dieser Tage explizit politisch.

Auch hier bei uns im Nahraum gibt es den Sommer über Gelegenheit, sich auf existenzielle Weise mit dem Leben auseinanderzusetzen. Sei es an einem der vielen Open-Air-Festivals, von Pop über Klassik bis Kino, oder an der Ausstellung von Pauline Julier im Aargauer Kunsthaus (S.26). Ihre intergalaktische Schau führt uns die Geworfenheit unseres Seins eindrücklich vor Augen. In diesem Sinne: Halten wir uns gegenseitig, im Sturz durch Raum und Zeit.

* und ** Vgl. Christian Schärf, in: Abseits denken : Fußball in Kultur, Philosophie und Wissenschaft, 2004.