Unterwegs

Vom Klassenclown zum (Staats-)Schauspieler in Dresden

Von
Florian Binder

Unterwegs mit Marin Blülle

Für das Gespräch opfert Marin Blülle an diesem verregneten Tag eine Spielpause, «aber es geht nicht anders», seufzt der schlanke, drahtige Mann. Marin, der in Gränichen und Uerkeim aufgewachsen ist und heute als Schauspieler in Dresden lebt, verbringt gerade seine Sommerferien in der alten Heimat. Doch statt am Aareufer zu liegen, huscht der 27­Jährige Mitte Juli durch die Alte Reithalle Aarau und treibt die letzten Vorbereitungen zur Premiere seiner ersten professionellen Regiearbeit «Bilder deiner grossen Liebe» voran.

Ein unfertiger Roman als Grundlage

«Bilder deiner grossen Liebe» basiert auf dem gleich­ namigen, unvollendeten Roman von Wolfgang Herrndorf, welcher nach Herrndorfs Selbstmord 2014 veröffentlicht wurde. Die Road­Novel dreht sich um die 14­jährige Isa, die aus der psychiatrischen Anstalt ausbricht und sich auf eine Reise durch Wälder, Felder und Dörfer macht. Dabei trifft sie Menschen, die sich wie sie vor der Gesellschaft verbergen. «Die Hauptfigur erzählt ihre eigene Geschichte, wobei die Leser*innen nie genau wissen, was nun Wahrheit und was Erinnerung ist», sagt Marin. Ein Roman, der zwischen Realität und Fiktion oszilliert und die Grenzen zwischen «normal» und «anders» verwischt.

Das Fragmentarische als kreatives Element

Als Ausgangslage für seine Inszenierung dient Marin die brüchige Wahrnehmung der Hauptfigur und die fragmentarische Struktur des Buches. «In diesen Lücken zwischen den Texten geht das Universum auf und diese Lücken will ich selbst füllen.» Dafür habe er eine eigene Formsprache gesucht, die sich des Tanzes bedient. Auf der Bühne treffen eine Schauspielerin, ein Tänzer und zwei Musiker auf eine sechsköpfige Gruppe von Mädchen zwischen sechs und zwölf Jahren. «Mit den Mädchen versuchte ich eine kraftvolle Spielweise zu realisieren, die sonst eher an Männer herangetragen wird», erklärt Marin. Die Zusammenarbeit mit den Kindern war eine neue Herausforderung: Wie werden sie auf die Theaterarbeit reagieren? Werden sie das Gewünschte umsetzen können? «Aber die beteiligten Mädchen haben super über ihre Neugier funktioniert», sagt Marin. Weil er neben der Regie auch das Kostüm und das Bühnenbild verantwortet, habe er viel zu tun, könne so aber einiges über diese Bereiche lernen. «Ich will es mir nicht bequem machen.»

Die Entdeckung seiner Berufung

Die ersten Schritte auf der Bühne macht Marin als 13­Jähriger im Schultheater. «Ich fühlte eine physische Anziehung zum Theater, die über den Intellekt hinausging.»

Er habe gespürt, dass die Schauspielerei ein Ventil für ihn sei und ihn ausgeglichener mache. «Zuvor war ich immer der Klassenclown.» Gute Rückmeldungen aus seinem Umfeld motivieren ihn, den Weg fortzuführen. Doch bald darauf langweilen ihn die Schulbühnen. «Ich brauche und will mehr Intensität», sagt er sich und sucht Gleichgesinnte in Zürich, Bern und Solothurn. Im zweiten Jahr seiner Schulzeit an der Neuen Kanti Aarau arbeitet er am Basler Theater mit einer Profischauspielerin zusammen und weiss von nun an: «Das ist mein Beruf.» Denn nur in der Schauspielerei könne man derart den Geist mit dem Körper verknüpfen.

Harte Ausbildung in der ehemaligen DDR

Nach der Matura werden seine Ambitionen zu gross für die Schweiz. «Ich wollte nicht hierbleiben und brauchte Distanz.» Im Alter von 20 Jahren bewirbt sich Marin an verschiedenen renommierten deutschen Schauspielschulen und erhält allerorts Zusagen. Schliesslich entscheidet er sich für die Hochschule für Musik und Theater «Felix Mendelssohn Bartholdy» in Leipzig. Hier wird er nach seinen Ansprüchen gefördert – und gefordert: «Die Schulen in der ehemaligen DDR sind hart, fast schon militärisch.» Nach zwei Jahren in Leipzig führt ihn das Studium für weitere zwei Jahre nach Dresden ans Staatsschauspiel. Er bewährt sich und lässt sich fest anstellen. Seit drei Jahren spielt und wohnt Marin nun in Dresden und kann heute sagen: «Ich bin am richtigen Ort.» Seine Karriere habe sich kontinuierlich so entwickelt, wie er es sich immer erträumt habe. «Ich reite auf einer Welle, die immer weitergeht.»

Suche nach Herausforderungen

Trotzdem wolle er sich nicht von diesem Erfolg beeinflussen lassen: «Ich möchte auf der Suche bleiben und mich selbst herausfordern.» Er vermeide zu einfache Projekte und suche Komplexität, sagt Marin, der seine Spielweise als körperlich, clownesk und tänzerisch beschreibt. Bei der Rollenvorbereitung hat er gelernt, seiner Intuition zu vertrauen und empfänglich für Signale aus der Aussenwelt zu bleiben. «Es ist ein unbeschreiblicher Prozess; wichtige Komponenten fliegen mir automatisch zu, zum Beispiel ein passender Artikel in einer liegengelassenen Zeitung. Das passiert von allein und hängt davon ab, worauf man seine Aufmerksamkeit richtet.» Schauspieler*innen bräuchten eine gewisse Durchlässigkeit für die Umwelt und deren soziale Prozesse sowie Emotionen, um das Aufgenommene dann wieder veräussern zu können: «Man muss eine Welt in sich aufnehmen und wieder teilen können.» Am Schönsten sei es, wenn er sich auf der Bühne ganz dem Spielfluss hingeben könne: «Es ist, wie wenn du am Berg den Tritt verlierst und den ganzen Weg hinunterstolperst, ohne je das Gefühl zu haben, dass es gefährlich sei oder du fallen könntest.» Marin möchte auch in Zukunft weitere Regiearbeiten realisieren – obwohl er sich frage, weshalb er das alles mache. «Der Prozess ist der Horror, aber gleichzeitig kreativ erfüllend», sagt er und entschwindet wieder Richtung Theater.

ZUR PERSON

Marin Blülle (*1995) verliess den Aargau, um in Leipzig sein Theater­-Handwerk zu perfektionieren und zum festen Ensemble-­Mitglied des Staatsschauspiels Dresden zu werden. In der Alten Reithalle Aarau setzte der mehrfach ausgezeichnete Schauspieler mit seinem Kollektiv imago mimikri seine erste professionelle Regiearbeit um.