Unterwegs mit Isabelle Spescha
Isabelle Spescha, Tänzerin und Choreografin, stammt aus dem Bündner Ort Waltensburg. Sie wächst mit drei Geschwistern auf einem Bauernhof auf, die Familie spricht Rätoromanisch und Deutsch. «Auswärtige, die ins Dorf kommen, sehen als erstes das Potential des Ortes», sagt Spescha. Waltensburg ist eine protestantische Enklave inmitten katholischer Gemeinden: «Der Ort ist in sich geschlossen, es braucht viel Vertrauen, bis Aussenstehende akzeptiert werden und ihnen Vertrauen entgegengebracht wird.»
Spescha redet von ihrer Kindheit im Bündnerland wie von einer längst vergangenen Zeit. Sie erzählt, wie ihre Mutter als Berlinerin nicht immer leicht gehabte habe im Dorf und wie involviert sie und ihre drei Geschwister im Haushalt und bei der Hofarbeit waren. Trotz bündner Vater haftete ihnen der Hauch der Aussenseiter an; die von der Mutter vorgelebte und weitergereichte Berliner Schnauze tut ihr Übriges dazu: «Ich hatte eine wunderbare Kindheit – ausser dem Mobbing, das ich in der Schule genoss.» Spescha schmunzelt. Sie ist ein selbstbewusster Mensch. Fürs Gespräch schöpft sie fortan nur aus dem Besten der Erinnerungen: die Wälder, die Berge, die ornithologischen Spaziergänge mit ihrem kleinen Bruder, oder die Ruhe der frühen Morgenstunden.
Ich treffe Spescha in der Aarauer Altstadt. Zusammen machen wir uns zum Vogelinseli zum alte Werkhof der eniwa auf, wo sich Proberäumlichkeiten des Kollektivs inQdrt befinden. Die Arbeit des Kollektivs zog in den vergangenen Jahren viel Aufmerksamkeit auf sich. Spescha arbeitet bei inQdrt als Choreografin mit jungen Athleten des Aarauer Parkour-Kollektivs Nurf zusammen. Zusammen brachten sie den Parkour vom öffentlichen Raum auf die Bühne, wo sich das Kunstvolle und Poetische des urbanen Sports herausschält. InQdrt schafft es ins Förderprogramm First Steps der Bühne Aarau, wird an Theater- und Tanzfestivals eingeladen und erhält schliesslich einen Newcomer-Preis des Bundes.
Der Frühling kommt dieses Jahr nur langsam in Gange. Es ist feucht und kühl, die ersten Mücken des Jahres sind noch behäbig unterwegs. Ganz im Gegensatz zu Spescha: Sie ist ständig in Bewegung, sodass es schwer ist, in der Dämmerung ein Foto von ihr zu knipsen, das nicht verschwommen ist. Das klingt, als sei sie eine hektische Person. Doch dieser Umkehrschluss ist auch nichtzutreffend. Spescha spricht bedacht und ausgewählt, sodass man manchmal den Eindruck hat, als erzähle sie all das nicht zum ersten Mal einem Journalisten. Wie sie spricht, so bewegt sie sich auch; sei es, wenn sie das grosse metallene Tor zum Areal öffnet, oder das Feuerzeug aus ihrer Bauchtasche kramt.
«Ich musste mich bewegen, um erfüllt zu sein, und jetzt ging das plötzlich nicht mehr.»
«Vom Traum als Tänzerin zu leben, habe ich mich schon beinahe verabschiedet», erzählt Spescha freiheraus, «es ist ein Schritt, den ich bewusst machen musste, um den Frieden mit mir selbst zu finden. Es ist auch eine schöne Aufgabe, sich die Zeit zu nehmen, um sich zu verabschieden.» Spescha ist in der Selbstbetrachtung nüchtern und durchdacht: «Tanzen braucht von Allem mehr: Du musst ständig fit bleiben. Du kannst nicht ruhen, ein paar Wochen lang nachgeben und dann das Gefühl haben, du könntest in zwei Monaten bei einer Produktion mitarbeiten. Ich habe gemerkt, dass der nachhaltige Umgang mit meinem Körper immer wichtiger wird.»
Spescha ist 33 und konzentriert sich vermehrt auf ihre Tätigkeit als Choreografin. Den Weg zum kreativen Arbeiten schlägt sie in einem Krankenhausbett ein. Mit 19 Jahren muss sie eine Niere entfernen lassen. «Egal, was ich angefangen hatte, ich wollte gut darin sein», sagt sie und fasst so ihre etlichen sportlichen Aktivitäten vor der Operation zusammen. Umso herausfordernder die Zeit danach: «Ich musste mich bewegen, um erfüllt zu sein, und jetzt ging das plötzlich nicht mehr.» Es wird ihr schnell klar, dass der Eingriff gewisse körperliche Einschränkungen mit sich bringt. Spescha schaut sich nach Möglichkeiten um, ihren Drang nach Bewegung anders zu stillen: «Im Krankenhaus schaute ich mir viele Tanzvideos an und bewegte mich dazu.» Der zeitgenössische Tanz fasziniert sie dabei am meisten, da er so viel Raum lasse, kreativ zu sein und es erlaube, neue Formen zu finden.
Spescha, die zuvor noch nie bei einem Vortanzen war, bewirbt sich fortan bei Tanzschulen. «Fake it until you make it», sei ihr Motto gewesen. Es funktioniert, Spescha hat gleich die Möglichkeit, zwischen mehreren Schulen auszuwählen. Schliesslich entscheidet sie sich mit Rupperswil für den Aargau. Nebenberuflich beginnt sie den Lehrgang zur Tanz- und Bewegungspädagogin. Warum bewirbt sich eine Bündnerin ausgerechnet im Aargau, frage ich. Die Antwort, sie habe in Spreitenbach gelebt, führt unweigerlich zur Frage, weshalb eine naturverbundene Bündnerin ausgerechnet nach Spreitenbach zieht. «Ich arbeitete damals in Zürich beim Betreibungsamt, später beim Steueramt, um mir die Tanzschule finanzieren zu können.» In dieser Zeit lernt sie auch Aarau kennen und lieben. Später folgen Weiterbildungen im zeitgenössischen Tanz in Bern und Berlin – dennoch bleibt sie Aarau verbunden.
Plötzlich ertönen ratternde Freiläufe und das Pfeifen spröder Bremsklötze. Die jungen Männer von inQdrt kommen mit ihren Fahrrädern die Einfahrt heruntergerast. Sie fahren einige Runden um uns herum wie stereotype Motorradrowdies aus einem 70ger Jahre Film. Als es dann kurz darauf ans Proben geht und Spescha die zu bearbeitenden Szenen in wenigen Bewegungen zusammenfasst, werden sie ganz still und diszipliniert. Es stünde noch die Frage im Raum, wie Spescha überhaupt auf die Idee gekommen ist mit diesen Jungs zusammenzuarbeiten. Aber die Frage beantwortet sich von selbst: Als Auswärtige, die nach Aarau kam, erkannte sie wohl einfach das vorhandene Potential des Ortes.
Zur Person
Isabelle Spescha, 33, ist Choreografin bei InQdrt und lebt in Aarau. Mit dem Parkours-Kollektiv Nurf erhielt sie letztes Jahr den June Johnson Newcomer Prize vom Bundesamt für Kultur.