Wie langweilig wäre eine Welt, in der immerfort dieselbe Geschichte erzählt wird. Und doch leben wir in genauso einer Welt. Eine dieser stetigen Wiederholungen betrifft unser Begehren: Frau soll Mann lieben und Kinder gebären. Dass das Leben viel bunter ist, wird machtvoll verschwiegen. Gerade die Geschichten von lesbischen Frauen bleiben in einer patriarchalen Welt unerzählt. Das Bühnenstück «Die Liebe in meinem Leben» setzt einen poetischen Kontrapunkt.
Welche Geschichten sind erinnerungswürdig? Wer darf erzählen und wer muss schweigen? Wie wird etwas erzählt, und wer kommt darin nicht vor? Machtverhältnisse innerhalb einer Gesellschaft bestimmen, mit welchen Geschichten wir aufwachsen, welche Zukunft wir uns überhaupt vorstellen können und sollen, welche Formen von Beziehungen privilegiert werden, für wen wir welche Gefühle haben dürfen, wer dazugehört und wer ausgeschlossen wird. Als «die Gefahr einer einzigen Geschichte» beschrieb dies die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie: Immerfort würden dieselben Geschichten erzählt, nicht etwa die Vielfalt vieler sich überlappenden Stories. Die Autorin bezieht sich vor allem auf die dominante weisse, westliche Perspektive. Stereotypen, Vorurteile und einseitige Geschichtsschreibungen seien die Folge dieser Beschränkungen – und die sind fatal. Sie zerstören Leben und schüren Hass. Ngozi Adichie sagt deutlich, es sei notwendig diese «einzigen Geschichten» zu überwinden.
Möglich wird das, wenn andere Geschichten endlich gehört werden. Zu diesen Geschichten gehören auch Erzählungen von und über lesbische Frauen. Frauen, die unabhängig von Männern ihren eigenen Weg gehen, sind in unserer Gesellschaft nicht vorgesehen. Frauenliebende Frauen wurden in der Schweiz bis Ende des 20. Jahrhunderts systematisch verschwiegen, stigmatisiert, verfolgt, pathologisiert oder lächerlich gemacht. Erinnerungen an lesbische Frauen wurden mit ihrem Nachlass entsorgt, Tagebücher und Briefe vorzeitig verbrannt, Liebesbeziehungen vor der Familie verheimlicht, Wünsche und Träume nicht gelebt.
Die vermeintliche Liberalität der heutigen Gesellschaft und der Gesetze – wie der Ehe für alle - täuscht darüber hinweg, was es bedeutet, nicht normativ zu begehren. Der alltägliche Schmerz wird geschluckt, wie er seit Generationen geschluckt wird. Oder müssten Lesben und Schwule wirklich Luftsprünge machen, dass sie nach 170 Jahren «modernem» Schweizer Bundesstaat auch mal noch heiraten dürfen?
Ein Grossteil der heute ältesten Generation von lesbischen Frauen stirbt ungehört weg. Kein Wunder hat es die lesbische oder queere Geschichtsforschung bis heute schwer, überhaupt Spuren dieser Geschichten zu finden. Es ist allerhöchste Zeit, Frauenleben ausserhalb heteronormativer Zusammenhänge ihren Platz an der Öffentlichkeit zu gewähren. Eine historische Grundlagenforschung ist für die Schweiz längst überfällig. Dazu ist es von gesamtgesellschaftlichem Interesse, das selbstgefällige Bild einer heterosexuellen Norm zu durchbrechen – das Leben ist vielfältiger, als es uns über all die Jahre eingetrichtert wurde.
Aber die heterosexuelle Matrix soll nicht gestört werden, wie Philosophin und Queer Theoretikerin Judith Butler kritisiert. Diese ist instabil und brüchig, darum werden Unsicherheiten, Uneindeutigkeiten, Undefiniertheiten – sprich menschliches Leben – reguliert. Gedanken werden normiert, Gefühle kanalisiert, Leidenschaften kontrolliert. Oft aus Angst und aus Mutlosigkeit sich der eigenen fragilen Identität zu stellen. Doch gerade an Erzählungen, die nicht unsere eigenen sind, können wir wachsen und uns an den Widersprüchen reiben.
«Ich finde es sehr wichtig, die alten Lesben dingfest zu machen und ihre Lebenserinnerungen festzuhalten. Es geht nicht mehr lange, bis der Gedächtnisschwund einsetzt oder bis wir alle tot sind.» Das erzählte mir Margrit Bernhard vor zehn Jahren in einem Gespräch über ihr Leben. Die 82-jährige St. Gallerin starb 2016. Lebensgeschichten, wie die von Margrit Bernhard, würden nicht erinnert werden, wenn sie nicht aufgeschrieben worden wären. Wie auch die Geschichte des Frauenpaars, das gemeinsam Kinder aufgezogen hatte, und auch nach 50 Jahren Beziehung sich nicht lesbisch nennen würde. Ein Begriff, der jahrelang eine negative Konnotation hatte und für viele unpassend erscheint. Oder die einer Frau, die voller Leidenschaft aus ihrem Leben und von ihrer grossen Liebe erzählt und mir ihr Tagebuch zeigte mit Einträgen aus den 1950er-Jahren, als sie ein Mädchen aus ihrer Schule liebte. «Oh, wie hübsch sie doch ist! Ich glaube, ich könnte leben allein von der Liebe zu diesem schönen, zarten Mädchen!» Und später: «Komisch, dass ich Ursula so liebe. Etwas, so dünkt es mich oft, stimmt mit mir nicht. Was ist auch los? Warum mache ich mir über das Leben so viele Gedanken. Tun das andere Mädchen in meinem Alter auch?» Bald nach der Schule heiratete sie einen Mann und hatte zwei Kinder. Nach dem Tod ihres Mannes konnte die heute 84-Jährige erstmals eine Frau lieben und wurde zurückgeliebt.
All diese Geschichten werden kaum in das kulturelle Gedächtnis der Schweiz aufgenommen und existieren somit nicht. Doch genau diese Geschichten sind es, die mich faszinieren und die ich erzählen möchte. Seit zehn Jahren frage ich frauenliebende Frauen über siebzig, ob sie mir aus ihrem Leben erzählen würden. Diese Frauen haben etwas gemeinsam: Sie sind vor der Frauen- und Lesbenbewegung der 1970er-Jahre aufgewachsen, sie waren in den 1950er- und 1960er-Jahren einem enormen Heiratsdruck ausgesetzt, ihr einziges Ziel musste sein, eine glückliche Ehefrau und Mutter zu werden, sie sollten nicht nach Bildung, Selbstbestimmtheit oder Unabhängigkeit streben.
Viele dieser Frauen glauben, ihr Leben sei doch nichts Besonderes, andere freuen sich, dass ihnen jemand zuhört. Manche sprechen zum ersten Mal über ihre Liebe zu Frauen. Und jede Geschichte ist einzigartig. Sie sprengen Vorstellungen, lassen einen über das eigene Leben nachdenken, zeigen neue Wege auf.
Hier könnten noch viele Geschichten stehen, unerzählte Geschichten von lesbischen Frauen von queeren Menschen. Doch über ihr Begehren und ihre Liebe wurde geschwiegen, Vorbilder unsichtbar gemacht, die Geschichten bleiben ungehört.
So kommt es, dass viele Menschen heute ungläubig staunen, wenn sie hören, dass es lesbische Frauen über 80 gibt, dass diese auch Mütter oder Grossmütter sind, dass einige mit Männern verheiratet waren oder es noch sind, oder dass sie seit 5 oder 50 Jahren mit einer Frau leben. Oder dass die 1950er-Jahre – so bünzlibürgerlich sie auch erscheinen mögen – queerer waren, als wir denken. Und dass sich auch heute noch alte Frauen in andere Frauen verlieben – gewisse zum ersten Mal.
Diese Geschichten entlarven nicht nur starre Geschlechterbilder und Vorstellungen der Intimität, sie sind auch eine «Bereicherung und nicht etwa eine Zumutung», wie es die 84-jährige Oberrohrdorferin Karin Rüegg formulierte, die seit 40 Jahren das Leben mit ihrer Partnerin teilt.
Corinne Rufli
ist Historikerin und forscht an der Universität Bern zur Lesbengeschichte der Schweiz
Liebe trotz(t) Widerständen
BÜHNE Das Stück «Die Liebe in meinem Leben» ist eine multimediale Annäherung an Lebensgeschichten lesbischer Frauen über achtzig – und eine Einladung zur Auseinandersetzung mit der eigenen Liebesbiographie.
Es war ein glücklicher Zufall: Eine Theaterregisseurin fragte mitten im Covid-Lockdown eine Historikerin über ihre Forschung zur Lesbengeschichte der Schweiz aus. Ruth Huber interessierte sich besonders für die Audio-Aufnahmen der lebensgeschichtlichen Gespräche von Corinne Rufli mit lesbischen Frauen im Alter. Daraus entstand eine mehrjährige Zusammenarbeit, die nun als Audiocollage (Ton: Christina Baron; Musik: Fatima Dunn) in Baden Premiere feiert. In der von Pro Argovia ausgezeichneten Produktion erinnern sich vier frauenliebende Frauen über achtzig wie sie die Liebe in ihrem Leben gelebt haben, wie sie den gesellschaftlichen Widerständen begegnet sind und wie sie ihre eigenen inneren Widersprüche ausgehalten haben. Christine bekam ein uneheliches Kind und verliebte sich in eine verheiratete Frau. Margrit wusste schon im Kindergarten, dass ihr Frauen gefallen und wurde zur unbequemen Feministin. Ilse fand ihr Leben lang keine Worte für ihre Liebe. Ruth war glücklich verheiratet, hat Kinder und Enkelkinder und erlebte die grosse Liebe erst nach ihrer Pensionierung.
Die Zeichnerin Anja Sidler nimmt uns mit auf eine Reise durch ein Archiv von Erinnerungen. Mit Stift und Farbe, mit Haut und Haar lässt sie die Erzählungen lebendig werden. Es entsteht ein zarter und humorvoller Dialog zwischen Ton und Bild, Vergangenheit und Gegenwart. Ein poetisches Bühnenstück über Liebe, Begehren, Identität und Selbstbestimmung. (cru)
Baden ThiK Theater im Kornhaus
Do/Fr, 23./24. Februar, 20.15 Uhr
Weitere Infos und Daten: www.ruthhuber.ch