Unterwegs mit Leonie Brander
Als Kind ist sie nach Schulschluss jeweils nach Hause geeilt, um zu basteln. Denn sie arbeitete schon immer gern mit den Händen. Kein Wunder also, freute sie sich bis ins Unermessliche, dass die Schule in York, wo sie mit 17 ihr Austauschjahr absolvierte, Textiles Werken als Hauptfach anbot. Und kein Wunder also, arbeitet sie heute als selbstständige Künstlerin: Leonie Brandner. Wir treffen uns in Aarau zum Gespräch – dort, wo sie aufwuchs und zur Schule ging. Die Stadt prägte sie – natürlich. Das Wasserrad bei der Schlossmühle zum Beispiel. Dort habe sie als Kind staunend die gleichmässigen Bewegungen des Rades beobachtet. Sie sei später oft daran vorbeigekommen auf einem ihrer Spaziergänge und habe dabei den Gedanken freien Lauf gelassen. Wir werden nach unserem Kaffee in der Tuchlaube einige ihrer Lieblingsorte abschreiten. Mittlerweile ist Leonie Brandners fester Wohnsitz in Den Haag. Sie weilt gerade für ein Projekt in der Schweiz. Über ihre «neue» Heimat sagt sie: «Ich mag es, nah am Meer zu wohnen.»
Sie erzählt, dass sie 2019 bis 2021 in Den Haag bereits einen Teil ihrer Ausbildung als Künstlerin absolviert und dort den Master of Artistic Research an der Royal Academy of Fine Art gemacht habe. «Ich bin schliesslich geblieben, weil ich tolle Menschen kennengelernt habe und ich mich sehr wohl fühle in der niederländischen Kunstwelt.» Die Niederlande ist nicht das einzige Land, in dem Leonie Brandner für längere Zeit gelebt hat: Schon früher, nach der Kantonsschule und dem Künstlerischen Vorkurs an der Hochschule für Kunst und Design in Luzern, zog es sie nach London, ans Chelsea College of Art. Und zwar aus gutem Grund: Während ihres Auslandjahres in York hatte sie die Gelegenheit, die Arbeiten der Kunst-Abschlussklasse in Chelsea, London anzuschauen. «Es nahm mir sofort den Ärmel rein. Ich spürte, dass ich mich nach der Kantonsschule dort bewerben wollte.» Sie wurde angenommen und blieb schliesslich drei Jahre in der Metropole. Eine Zeit, auf die sie mit gemischten Gefühlen zurückblickt: «Es war schon hart. Ich wurde quasi allein gelassen, durfte und musste mich selbst um meine Kunstprojekte kümmern. Natürlich hatte ich Ansprechpartner*innen, die auch immer sehr nett waren. Aber am Ende des Tages waren alle auf sich gestellt – eine gute Lebensschule.» Freund*innen zu finden sei besonders schwierig gewesen, schon wegen der schieren Grösse Londons. «Wenn man 45 Minuten auseinanderwohnt, geht man nicht spontan mal auf einen Kaffee vorbei.» Sie biss sich durch. Eine Eigenschaft, die wichtig ist für eine selbstständige Künstlerin. Oft kämen Anfragen oder Auftragsbestätigungen kurzfristig, was eine Planung erschwere, wie sie sagt. Und – auch wenn sie das Thema nicht von sich aus anspricht – wer eine eigene Firma hat, plagen hin und wieder auch existenzielle Fragen. Fragen, denen Leonie Brandner «mit viel Vertrauen in die Zukunft» ihre Härte und Brutalität nimmt.
Wir trinken den letzten Schluck unseres Kaffees und machen uns zu Fuss auf den Weg durch Aarau. Auf meine Bitte hin beschreibt sie ihr künstlerisches Schaffen: «Ich interessiere mich für materielle Erzählungen, dafür, wie Dinge Geschichten enthalten und wie Materialien in erzählerische Erfahrungen eingebunden sind.» Diese Aussage macht deutlich, wie vielseitig sie als Künstlerin ist. Sie stellt nicht nur Objekte und Installationen aus Alltagsmaterialien her, formt Keramiken und stickt. Sie singt und schreibt auch. Dieses Jahr veröffentlichte sie gar ihr erstes Buch. «Three Becomes Two Becomes One Becomes None – Cosmopoiesis of Mandragoras» dreht sich um die Alraune, eine Pflanze aus dem Mittelmeerraum. Mythen und Sagen schlängeln sich um dieses Gewächs, die Pflanze soll eine Art Menschengestalt haben. Wer genauer hinsieht, kann die Ähnlichkeit zu menschlichen Körpern tatsächlich erkennen. Gerade die vielen Geschichten, die sich um die Alraune ranken, haben das Interesse von Leonie Brandner geweckt, das sie nicht ausschliesslich in Buchform verarbeitet: Es wird auch eine Performance zur Pflanze geben, für die sie mit der Opernsängerin Nina Guo Lieder und Texte verfasst hat. Thematisch liess sich die 32-Jährige in diesem Fall von ihrer Weiterbildung in Ethnobotanik und Ethnomedizin leiten.
Bei Ausstellungen ist Leonie Brandner wichtig, ihre Installationen, Objekte und Werke so zu gestalten, dass sich regelmässig ein kleiner Teil davon verändert. «Ich bin der festen Überzeugung, dass nichts für immer genau gleichbleibt. Und das möchte ich auch in meiner Kunst zeigen – sei es durch das Licht oder sei es durch die Musik, die dem Raum eine weitere Dimension geben», sagt Leonie Brandner dazu. Während wir durch die Altstadt spazieren, lasse ich mir die verschiedenen Facetten Leonie Brandners durch den Kopf gehen. Genauso, wie ich versuche, die Ereignisse und Geschichten im Leben von zu portraitierenden Menschen zu verstehen und die Einflüsse von Begebenheiten auf ihre Entscheidungen zu begreifen, geht auch sie auf die Suche nach Zusammenhängen und überraschenden Verbindungen hinter den Dingen.
ZUR PERSON
Leonie Brandner, 32 aus Aarau, lebt in Den Haag NL. Die Annahme, dass nichts so bleibt, wie es gerade ist, zieht sich durch ihr multimediales Werk.