Unterwegs mit Darja Keller
Darja Keller hadert manchmal damit, sich als Schriftstellerin zu bezeichnen. Diese Berufsbezeichnung gehe mit der Vorstellung einher, dass man neun Stunden täglich am Schreiben sei. «Das ist aber definitiv nicht so», sagt sie und lacht. Ob Schriftstellerin oder nicht: im November letzten Jahres erschien ihr Erstling «Sihl City». Die Figuren darin bewegen sich in einem modernen Zürich, angetrieben von der Sehnsucht nach Liebe, Freundschaft und von dem fast unerschöpflichen Erlebnispotential dieser Stadt. Das führt dazu, dass die Figuren zwar genau da sind, wo sie sein wollen, sich aber trotzdem gerne woanders hin sehnen.
Als wir uns im frisch angebrochenen Jahr an einer dunklen Limmat vor dem Zürcher Jugendkulturhaus Dynamo treffen, wird das alles sehr bald wirklich.
Orte wie der Obere Letten sind mit so starken Bildern besetzt, dass sie längst ihr Eigenleben entwickelt haben: Sie sind es, die ihren Besucher*innen und Bewohner*innen vorgeben, was man in ihnen zu sehen hat. Die heute menschenleere Uferpromenade zum Oberen Letten hin gibt beispielsweise die Sehnsucht nach dem Sommer vor: Der Duft nach Sonnencrème und Schweiss, bunte Badetücher, brutzelnde Haut und Hotdogs, knappe und in Neon leuchtende Bademode sind auch im Januar fast realer als die Kälte, welche uns die dampfenden und stirnbandtragenden Jogger*innen vorzugaukeln versuchen. Und so bin ich schon nach wenigen Minuten unmerklich in Kellers Poetik verfangen, die auch ihren Erzählband prägt: Die Erzählung quellt aus den Orten und erst durch sie ergibt sich das weite Spektrum der geschilderten und ersehnten Sinneswahrnehmungen.
Im Gehen tauschen wir uns über Lebensentwürfe aus, die einem das literarische Arbeiten ermöglichen. Bei Keller heisst das in aller Kürze: Jobben. Sie arbeitet seit einigen Jahren als Kellnerin, momentan in einer Quartierbeiz. Zwischendurch schreibt sie Essays, die dann in grösseren Publikationen, wie etwa dem Magazin des Tagesanzeigers oder in der Zeit, gedruckt werden. Solche Möglichkeiten fallen nicht von Himmel. Keller setzte sich schon früh mit dem Schreiben auseinander. Beispielsweise besucht sie als Teenagerin während den Sommerferien ein Schreiblager in Österreich, wo man das Schreiben als Handwerk verstanden haben will. Obwohl Keller den Schreibprozess nicht ganz so streng auffasst, macht sich das Erlernte bald bezahlt. Sie absolviert ihr Maturapraktikum beim Studierendenmagazin NZZ Campus und trifft dort auf Mentorinnen, die ihr Talent erkennen. In den darauffolgenden Jahren erinnern sich diese immer wieder an Keller, und so kommt schliesslich die Gelegenheit zustande, ein Essay für das Magazin zu verfassen.
Keller ist 1994 geboren und stammt aus Würenlos. Sie macht die Matura in Wettingen und zieht dann nach Zürich, um Literaturwissenschaften zu studieren. Literarisch schreibt sie quasi nebenher. «Ich habe diese Geschichten über viele Jahre geschrieben», erzählt sie ganz nüchtern, «und als ich dann mit meinem Master fertig war, dachte ich: Jetzt muss etwas damit passieren!» Über eine Bekannte wird sie auf den re:sonar Verlag in Hannover aufmerksam. Die Entdeckung des Verlags ist ein Glücksfall, denn es gibt im deutschsprachigen Raum kaum noch Verlage, die willens sind, Kurzgeschichten als Debut zu publizieren. Es waren nicht nur die äusseren Umstände, welche Keller auf die Verlagssuche brachten, sondern auch die angesammelten Texte selbst. Sie habe gespürt, dass diese Geschichten «in sich zusammengehören und zusammen irgendwo hingehörten.» Dass diese Texte dann ihre abschliessende Form gefunden hatten, habe sie befreit, Neues anzugehen.
Wir überqueren die Limmat. In Ufernähe sitzt ein Schwan in der Jungmauser und zupft geduldig an seinen grauen Federn. Wir überqueren das Sihlquai und tauchen in den Kreis 5 ein. Unsere Blicke schweifen über die Strassen, an Vorgärten und Hauseingängen vorbei, wo Bücher und alte Kameras darauf warten, von Passanten mitgenommen zu werden, und über die Dächer. Der graue Himmel und das milchige Licht geben nichts Verwertbares her; keine Kontraste und keine Schatten prägen das Strassenbild. Dann erzählt Keller von einer Podcastsendung, in der ein Berliner Schornsteinfeger gesagt habe, dass er anhand des Rauchs erkenne, wie die Wohnungen im Haus darunter aussehen würden. Kohle- und Holzöfen lassen sich Bauepochen zuordnen, weswegen ein aufmerksamer Schornsteinfeger weiss, wie es hinter den Fassaden der Häuser aussieht. Das fasziniert sie. Wir reden darüber, wie man als Zugezogene die Städte wahrnimmt und auch, wie man sich darin bewegt. «Obwohl ich mit der S-Bahn in 30 Minuten in Würenlos bin, scheint es mir eine Reise in eine andere Welt zu sein», sagt Keller, nicht ohne noch anzufügen, dass dieser Unterschied wohl schlussendlich doch menschengemacht sei und «sich diese Welten in echt vielleicht gar nicht so stark unterscheiden, wie man glaubt.»
Sie möge die kurze Form, weil diese schnell eine Unmittelbarkeit generiere. Ihre unspektakuläre, aber sehr präzise Art zu sprechen, unterstreicht das. Keller kommt ohne grosse Wortakrobatik aus, um die Dringlichkeit, die den Erzählband «Sihl City» prägt, zu erschaffen. Nachdem wir im Café ein letztes Getränk bestellen, erzählt sie nebensächlich von ihrer Arbeit in der Quartierbeiz. Es gäbe dort immer wieder Gäste, die sich aus dem Menü spezifische Pizzen aussuchen, diesen dann aber so viele Zutaten hinzufügen und andere abbestellen würden, dass das Aufgetischte schliesslich gar nichts mehr gemein habe mit dem ursprünglich Bestellten. Darja Keller mag die kurze Form, weil sie sie bestens beherrscht, selbst im Gespräch.
Darja Keller
Die Autorin (*1994) wuchs in Würenlos AG auf und studierte Literaturwissenschaft und Kulturanalyse. Sie lebt und schreibt und jobbt in Zürich. Vor Kurzem ist ihr Kurzgeschichtenband erschienen: «Shil City», re:sonar Verlag.