Unterwegs mit Alex Siebert
Die Fahrt mit der Buslinie 2 vom Aarauer Bahnhof ins Kiff ist eine Reise in die Jugend. Vor der Haltestelle Tellizentrum steht eine Traube Jugendlicher um einen frisierten Roller herum. Sie fachsimpeln, einer zeigt auf den geblähten Auspuffkrümmer und ein anderer steht im Türrahmen der Dönerbude und wartet darauf, seine Bestellung abzugeben. Einmal Aargauer Jugenderinnerung mit Allem, bitte.
Ich steige aus dem Bus und erkenne in der Dämmerung Alex Siebert (28) sofort: Sie trägt einen auffällig leuchtenden hellblau-neonorangenen Schal und winkt mir zu. Siebert ist Illustratorin, Grafikerin und freie Künstlerin. Sie hat den Vis-Kom Studiengang an der HKB absolviert und gestaltete dort als Abschlussprojekt einen Animationsfilm, der «Unknot» heisst. In der Beschreibung zu diesem heisst es: «Wachsen, durchbrechen, sich entfalten. Die inneren Mechanismen eines jeden Menschen.» Der Film zeigt jeweils nur einzelne Abschnitte einer organischen Fliessbandmaschine, und wie sich ihre einzelnen Teile bei der Arbeit ermüden. Erst gegen Schluss offenbart sich die Sisyphos-Maschine, an deren Produktionsende sie sich aufs Neue Arbeit generiert. Der Film schaffte es an Animationsfilmfestivals, wurde unter anderem am Fantoche gezeigt.
«Einfach Richtung Aare», schlägt Siebert vor, nachdem sie mich bereits über ihren angeblich fehlenden Orientierungssinn aufgeklärt hat. Dass wir uns im Tellizentrum treffen, kommt natürlich nicht von ungefähr: Seit ihrem 18. Lebensjahr engagiert sie sich im Konzertlokal Kiff, das nur eine Station weiterliegt. 2009 zieht ihre Familie von Deutschland in die Schweiz nach Schafisheim, wo auch ich zu dieser Zeit wohnhaft war. Sie besucht die Bezirksschule in Lenzburg und erfährt als Zuzüglerin ganz genau, was dieser Schule inhärent war: Das damals abgesonderte Schulhaus verstand sich als elitär und der Lokalstolz auf das kleine Städtchen nahm manchmal bizarre Züge an. «Die Philosophie dieses kleinen Schulhauses habe ich nie kapiert. Ich wusste nicht, was ich falsch machte und warum. Genauso wenig wusste ich, wie ich mich richtig verhalten sollte.» Beispielsweise habe ein Lehrer ihr mal die Aufgabe gegeben, einen Satz auf Schweizerdeutsch aufzusagen (obwohl der Unterricht für alle anderen natürlich Hochdeutsch war). Doch Siebert war erst kurze Zeit in der Schweiz und die Sprache war ihr noch fremd. Der Lehrer drohte, den Unterricht zu unterbrechen, doch Siebert weigerte sich. Ich erzähle ihr von meinen Erfahrungen in derselben Schule und dass ich den Verdacht nie ganz loswurde, dass auch die Dörfler *innen einen schwereren Stand hatten als die Kinder der eingesottenen Lenzburger Familien.
Die Schikanen enden bei ihr glücklicherweise an der Neuen Kantonsschule Aarau. Siebert macht während des Informatikunterrichts erste gestalterische Erfahrungen im Digitalen. «Bei der Flash-Einführung konnte ich zum ersten Mal etwas animieren.» Gleichzeitig wächst die Freude an der Musik jenseits des Mainstreams. Dies öffnet ihr das Türchen zur alternativen Szene rund ums Kiff. Fortan leistet sie dort Freiwilligenarbeit, übernimmt erste Abenddienste, steht bei Konzerten hinter der Eintrittskasse, betreut Bands und reinigt spätnachts den Konzertsaal. Siebert kommt nun richtig in der Schweiz an. Später, als sie in Aarau den gestalterischen Vorkurs besucht, bringt sie sich auch grafisch beim Kiff ein. Das musiknahe Umfeld wird zur Konstante in ihrem Leben. So designt sie ein Plattencover für Ricky Harsh, aber auch Plakate fürs Kiff und das Aarauer Festival am Gleis. Sie konzipiert ein Musikvideo für die Jazzsängerin Cinzia Catania mit und entwickelt die entsprechenden Animationen dazu.
Es dunkelt ein und hinter etwas Gestrüpp befindet sich ein kleiner Sandstrand: «Da sind wir», freut sie sich – ihr Orientierungssinn hat doch nicht versagt. Ich will mehr wissen über die Verstrickung ihres Schaffens mit der Musik. «Wenn man in den Jugendjahren versucht, sich zu finden, ist die Musik zentral», sagt sie. Siebert antwortet besonnen und überlegt. «Ich habe in diesem Jahr einen Animations-Master in Luzern begonnen, um meine Skills zu vertiefen und zu schauen, wo mich das hinführen wird.» Als Abschlussprojekt komme ein Musikvideo in Frage. «Es ist aber bei Weitem keine Auftragsarbeit», schiebt sie nach, «die Band stellt mir den Song zur Verfügung und überlässt mir die komplette künstlerische Freiheit.» Ob die Band die Animationen verwenden wolle, sei eine andere Sache, die nicht mit dem Gestaltungsprozess in Verbindung stehe.
Nach zwei Tassen Tee, den sie in einer Thermoskanne mitgebracht hat und der von einer Marke stammt, «die zwar etwas teuer ist, aber ganz tolle Illustrationen auf den Päckchen hat», machen wir uns auf ins Kiff. Dort befindet sich auch ihr «kulturdünger»-Büro. Seit 2022 leitet sie das Jugendkulturförderprogramm, das – natürlich – dem Konzertlokal angegliedert ist und Jugendlichen zur Finanzierung ihrer Projekte verhilft. Sieberts Bestrebung ist es, den «kulturdünger» so niederschwellig wie möglich zu gestalten. «Wir haben beispielsweise einen Handykontakt. Da können uns Interessierte bei Fragen direkt via WhatsApp erreichen.» Uns heisst in diesem Fall sie, denn Siebert antwortet persönlich auf die Anfragen.
Im Kiff läuft gerade ein Punkkonzert, auf dessen Gästeliste wir stehen. Wir nehmen die steile Treppe hoch in den Saal. Die Darbietung der Punkband ist handzahm. Die Musik und die Haltung der männlichen Bandmitglieder ist stereotyp für amerikanische Punkbands aus den 00er-Jahren. Siebert nennt es treffend «American-Pie-Punk». Dennoch berührt das Konzert – wahrscheinlich aus Nostalgie, denn bald steht der Bau zum Kiff 2.0 an. Wachsen, durchbrechen und sich entfalten, scheint auch zu den grundlegenden Mechanismen der alternativen Szene zu gehören.
Zur Person
Alex Siebert (*1995, Kassel) ist Grafikerin und Animatorin und wohnt in Aarau. Sie studiert Animation im Master an der HSLU Design & Kunst, arbeitet als Projektleiterin von Kulturdünger und als Regionalverantwortliche Aargau bei den Sofalesungen.
alexandrasiebert.ch