Die beiden Journalistinnen Natalia Widla und Miriam Suter haben mit «Hast du Nein gesagt?» ein Buch über den Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Schweiz geschrieben. Das AAKU hat sich mit Miriam Suter über ihre Erfahrungen bei der Recherche, ihre persönliche Motivation und über die Revision des Sexualstrafrechts unterhalten.
Was hat Sie bewogen, sich mit dem Thema der sexualisierten Gewalt auseinanderzusetzten?
Miriam Suter: Einerseits die persönlichen Geschichten von Freundinnen, andererseits die Erfahrungen, die sowohl ich als auch meine Co-Autorin Natalia Widla seit Jahren als Journalistinnen machen: Wenn es um das Thema sexualisierte Gewalt geht, stösst man bei der Polizei oft auf taube Ohren. Beziehungsweise: Auf fehlende Sensibilität. Das war mir schon immer ein Rätsel. Deshalb habe ich mich bereits vor ein paar Jahren mit der Journalistin Karin A. Wenger für das Onlinemagazin Republik im Rahmen einer Recherche diesem Thema gewidmet. Damals fokussierten wir uns aus- schliesslich auf die Frage, inwiefern man bei der Polizei auf die Thematik sensibilisiert und ausgebildet wird. Ich merkte aber, dass mich das Thema nicht losliess, weil es so viel grösser ist als diese Frage. Darum wollte ich ein Buch über die ersten drei «Anlaufstellen» schreiben, denen Betroffene von sexualisierter Gewalt begegnen: die Polizei, die Opferberatungsstellen und das Gesetz.
Welche Umstände haben euch bei der Recherche zum Buch am meisten überrascht?
Im Gegensatz zur Recherche für die Republik-Reportage zeigte sich die Polizei zugänglicher. Nicht vollends zugänglich und offen – es gibt Mails, die bleiben bis heute unbeantwortet – aber offener. Konkrete Unterlagen, mit denen die Kadett*innen auf häusliche oder sexualisierte Gewalt geschult werden, durften wir aber zum Beispiel nie einsehen. Natalia hat der Polizeischule Hitzkirch einen Besuch abgestattet und stiess auf einen sehr guten Unterricht. Allerdings ist ja klar, dass nur die Besten antreten, wenn eine Journalistin vorbeikommt. Mit den angehenden Polizist*innen selber durfte sie aber nie alleine sprechen, es war immer jemand von den Ausbildner*innen dabei. Ehemalige und praktizierende Polizist*innen haben wir aber zum Glück auf eigene Faust gefunden, die haben auch mit uns gesprochen.
Noch immer sind unsere Vorstellungen von Sexualität stark patriarchal geprägt, was sich auch in den Institutionen wie der Polizei und Justiz widerspiegelt. Was können wir – als Gesellschaft – dagegen tun?
Vorab: Sexualisierte Gewalt hat nichts mit Sexualität zu tun, sondern mit Gewalt. Die beiden Felder hängen aber natürlich oft zusammen. Die patriarchalen Vorstellungen davon zu überwinden ist ein derart vielschichtiger Prozess, dass man darüber locker ein eigenes Buch schreiben könnte. Aus meiner Sicht befinden wir uns erst am Anfang einer Entwicklung, die dringend nötig ist. Zumindest gesellschaftlich. Der nationale feministische Streik 2019 hat dazu sicherlich einiges beigetragen. Gleichzeitig scheint sich die Politik im Schneckentempo zu bewegen – nebst der Reform des Sexualstrafrechts, und auch die war längst überfällig. Was wir tun können: Uns reflektieren, vor allem die Männer, und sich mit anderen austauschen, sich weiterbilden, lesen, reden, und so weiter. Sich fragen: Wo bin ich Teil des Problems und was kann ich dagegen tun? Für Männer empfehle ich zum Beispiel den Verein «Die Feministen» oder die Plattform männer.ch.
LESETIPP
«Hast du Nein gesagt? Vom Umgang mit sexualisierter Gewalt.»
Miriam Suter, Natalia Widla. Limmat Verlag, 2023, Zürich.
Jede fünfte Frau in der Schweiz ist von sexualisierter Gewalt betroffen, aber nur acht Prozent der Fälle werden zur Anzeige gebracht. Während das Sexualstrafrecht in der Schweiz eine Reform durchläuft, nehmen Miriam Suter und Natalia Widla die Praxis unserer Polizei und Beratungsstellen sowie das Recht unter die Lupe. Ausgehend von den Geschichten dreier Frauen, deren Erfahrungen stellvertretend für viele Opfer stehen, werden Abläufe und Ansprechpersonen dargestellt, die von sexualisierter Gewalt Betroffenen zum Verhängnis als auch zur Hilfe werden. Es schockiert, bestärkt, macht Hoffnung – und geht alle an.
Sie sprechen die Revision des Sexualstrafrechts an: Vor kurzem hat der Ständerat auf der «Nein heisst Nein»-Lösung beharrt – jedoch mit einem Kompro- miss zum Thema Freezing. Sind Sie damit zufrieden?
Ich persönlich wäre zufriedener mit einer «Nur Ja heisst Ja»-Lösung. Wie übrigens auch alle Fachpersonen, die mit Betroffenen arbeiten, mit denen wir für das Buch gesprochen haben. Die Fragestellung an die Betroffenen wäre eine andere. Man sendet ein anderes Signal, wenn man eben nicht fragt: Hast du Nein gesagt? Hast du dich gewehrt? Sondern: Wolltest du das? Immerhin wird mit dem Freezing anerkannt, dass man eben nicht immer in der Lage ist, sich körperlich zu wehren. Das ist schon einmal wichtig. Auch, dass die Täterarbeit eingeschlossen wird, ist ein gutes Zeichen. Sie wäre aber als präventive Massnahme viel wichtiger und sollte nicht erst dann zum Einsatz kommen, wenn bereits ein Übergriff begangen wurde.
Wie Sie eingangs erwähnten, gliedert sich das Buch in drei Teile: Polizei, Opferberatungsstellen und Recht. In welchen Bereichen hat die Schweiz bezüglich sexualisierter Gewalt den höchsten Handlungsbedarf?
Das Sexualstrafrecht wird nach der Reform sicher eher der Realität angepasst sein. Bei den Opferberatungsstellen wäre es immens wichtig, dass sie mehr finanzielle Res- sourcen bekommen, wie übrigens auch die Frauenhäuser. Die sind seit Jahren unterfinanziert und überfüllt – ein Armutszeugnis für die Schweiz, die 2017 die Istanbul Konvention ratifiziert hat. Von diesen drei Bereichen gibt es aber bei der Polizei am meisten Handlungsbedarf, sowohl bei der Ausbildung als auch in Bezug auf die Kultur, die in vielen Korps herrscht. Weil sie sehr oft die erste Anlaufstelle sind für Betroffene und es eben problematischer ist, wenn dort frauenfeindliche Vorstellung gegenüber Opfern von sexualisierter Gewalt herrschen als zum Beispiel in einem Gemeindebüro in Gümmlingen. Es ist ein grosses Problem, wenn Polizist*innen denken, dass 80 Prozent der Frauen lügen, wenn sie eine Anzeige wegen Vergewaltigung machen – das hören wir immer wieder. Und mehr noch: Es ist gefährlich und führt dazu, dass Betroffene keine Anzeige machen.
In der Recherche wurden Sie mit heftigen Geschichten konfrontiert und die journalistische Arbeit über polizeiliches Fehlverhalten beschreiben sie im Buch als «emotionale Achterbahnfahrt». Wie gehen Sie mit solchen Erfahrungen um?
Da ich mich seit Jahren mit diesen Themen beschäftige, habe ich ziemlich gute Tools entwickelt dafür. Ich weiss zum Beispiel, dass ich mit meinem Umfeld darüber sprechen kann, was diese Geschichten mit mir machen. Und das tue ich auch regelmässig. Ich gehe viel spazieren, um mich abzulenken und wieder zu mir zu kommen. Und ganz ehrlich: Weinen hilft auch. Das haben wir während der Recherche für das Buch ab und zu gemacht. Es hat allgemein sehr geholfen, dass ich das Buch zusammen mit Natalia geschrieben habe und wir uns oft austauschen und stützen konnte. So fühlt man sich weniger allein.
LESUNG:
AARAU Kiff, Mi, 10. Mai, 20 Uhr