In einer vielstimmigen Schau widmet sich das Aargauer Kunsthaus dem Thema Rassismus. Eine selbstkritische Konfrontation über Macht und Ungerechtigkeit. Wir haben uns mit den Künstlerinnen Sasha Huber und Laura Kingsley über Erinnerungskultur, rassistische Gewalt und ästhetischen Widerstand unterhalten – und darüber, was uns alles miteinander verbindet.
Die Künstlerin Sasha Huber sitzt vor einem grossformatigen dunklen Brett. Sie hat sich für zwei Wochen im «Eck» in Aarau eingerichtet, um vor Ort Werke für die Ausstellung «Stranger in the Village» im Aargauer Kunsthaus zu erstellen. Sie trägt einen Hörschutz, wie an einem Schiessstand. Und so tönt es auch, wenn sie mit einer Tackerpistole die Portraits unter anderem von Pionier*innen und Vorkämpfer*innen für die Rechte von People of Color auf Akustikplatten schiesst. Heute möchte Sasha die beiden Bilder der Journalistin und Autorin Angélique Beldner («Der Sommer in dem ich Schwarz wurde») und des Schriftstellers und Künstlers Vincent O. Carter («Das Bernbuch. Meine weisse Stadt und ich») abschliessen. Dazwischen nimmt sie sich Zeit für ein Interview.
Die Porträtserie «The Firsts», die ich 2017 begonnen habe, erforscht den historischen und institutionellen Rassismus und seine lähmenden Auswirkungen auf Menschen der afrikanischen Diaspora. Die Unterdrückung ganzer Gemeinschaften hat gerechte gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen erschwert, die direkt mit dem Denken und Handeln der weissen Vorherrschaft zusammenhängen. «The Firsts» untersucht, wie diese Behinderung der Grund dafür ist, dass es auch heute noch möglich ist, die «erste Schwarze Person» zu sein, die bestimmte Positionen in vielen Bereichen erreicht. Der institutionalisierte Rassismus und die Vorurteile in ihrer Ausführung innerhalb des westlichen Paradigmas haben erfolgreich dazu beigetragen, dass Menschen zurückgehalten wurden oder ihre Leistungen nicht die verdiente Anerkennung und Würdigung erhielten. Angélique Beldner beispielsweise, war 2015 die erste und bislang einzige Afro-Schweizer Tagesschausprecherin bei SRF. Andererseits interessiere ich mich in dieser Serie auch für die Geschichten von Menschen aus der afrikanischen Diaspora, die im 19. und 20.Jahrhundert in verschiedene europäische Länder gekommen sind.
Ich habe vor rund 20 Jahren die Tackerpistole während meines Studiums in Helsinki für mich entdeckt. Sofort fiel mir auf, dass sich diese wie eine Waffe anfühlte: ihr Gewicht, ihr Geräusch. Ich erkannte, dass sie mir ermöglichen würde, ungleiche Machtdynamiken anzusprechen. Damals habe ich Porträts von Kolonialisten und Diktatoren geschossen. Es war für mich eine Art, zurückzuschiessen, und ich nannte die Arbeiten «Shooting Back». Bald realisierte ich jedoch, dass ich meine Energie nicht für solche Machthaber einsetzen will, die soviel Schaden angerichtet haben, sondern mich mehr den Geschichten von Menschen widmen möchte, die einerseits unter den Folgen von ungerechten Machtverhältnissen gelitten haben und denen andererseits in der Geschichtsschreibung nicht angemessen Platz eingeräumt worden war. Um dies zu verdeutlichen, arbeite ich in dieser Serie spezifisch auf schwarzen Akustikbrettern, mit denen normalerweise in Innenräumen Geräusche gedämmt werden. Darauf mache ich mit unzähligen Tackern die Personen sichtbar. Das Schiessen hat sich in ein Zusammennähen von kolonialen Wunden weiterentwickelt. Ich nenne diese Arbeiten «Pain-Things».
Ja, wir waren in dem Städtchen, wo ich aufgewachsen bin, eine der wenigen Familien mit unterschiedlichen Herkünften. Wir waren wie James Baldwin «die Strangers in the Village». Mein Kunstschaffen ist von der Geschichte meiner Mutter geprägt. Sie und ihre Familie waren während der Duvalier-Diktatur 1965 aus Haiti nach New York geflohen, wo sie meinen Vater kennenlernte und mit ihm in die Schweiz kam.
Das war im Projekt «Shooting Back». Von da an hatte die Auseinandersetzung mit Machtdynamiken und Identitätsfragen, die mich bereits davor beschäftigen, mit der Tackerpistole ein Ventil. Mittlerweile mache ich auch sogenannte reparative Interventionen, arbeite in diversen Medien, und kollaboriere mit verschiedenen Leuten aus unterschiedlichen Domänen. Etwa mit dem Historiker und Aktivisten Hans Fässler, der die Kampagne «Demounting Louis Agassiz» gegründet hat, in dem er die rassistische Weltanschauung des schweizerisch-amerikanischen Glaziologen offenlegte.
Ich habe eine reparative Intervention auf der Bergspitze gemacht, in der ich den Gipfel nach Renty Taylor visuell und symbolisch umbenannt habe. Die Auseinandersetzung mit dem rassistischen Erbe Agassiz führte mich danach weiter in andere Länder, denn es gibt circa 80 Orte, die nach ihm benannt sind, auch auf dem Mond und dem Mars, zudem tragen sieben Gattungen seinen Namen. Die Umbenennung war im Gedenken an Renty sowie den Menschen, denen gleiches Unrecht geschehen war.
Ja, ausser einem Schaukasten, den eine Privatperson unterhält, erinnert im öffentlichen Raum nichts an ihn. Deshalb hatte ich den jetzigen Chaletbesitzer*innen vorgeschlagen, sein Porträt in einen Fensterladen zu tackern. Die haben die Idee sofort gut gefunden. Jetzt reisen immer wieder Leute dorthin und machen Fotos von James Baldwin. Er ist also no longer a Stranger in the Village.
Die Ausdruckskraft und das Zeitgemässe an seinem Werk beeindrucken mich sehr. Vieles, was er sagte und schrieb, trifft auch heute noch zu. Persönlich am nächsten ist mir wohl der Essay «Stranger in the Village». Ich verstand, was er im Walliser Dorf erlebte. Im Städtchen meiner Kindheit hatte ich auch Erlebnisse, die mir zeigten, okay, du bist anders. Überhaupt gibt es im Alltag viele Situationen, in denen dieses Gefühl des Andersseins entsteht. Wenn beispielsweise Hautpflaster nur in der genormten, blassen Hautfarbe erhältlich sind, oder wenn auf dem Shampoo steht, für normale Haare, damit aber gerade, westeuropäische Haare gemeint sind. Dieses «Normalisieren» ist stark verankert und schliesst viele Menschen aus.
Die Kritik wird wohl als Bedrohung des Status quo angenommen. Dabei geht es schlicht darum, Licht in die dunkleren Ecken des kollektiven Gedächtnisses zu bringen. Es werden keine Fakten verdreht, es werden Agassiz zum Beispiel die Verdienste in der Glaziologie nicht abgesprochen. Es geht schlicht darum, die ganze Geschichte zu erzählen. Das finde ich wertvoll. Wir müssen unbequeme Fragen stellen. Seit Black Lives Matter 2020 um die Welt ging, sind die Leute auch hier etwas aufgerüttelt. Man entdeckt gerade, dass es auch hier Rassismus gibt und die Schweiz durchaus eine koloniale Vergangenheit hat. Wir sind alle, egal welcher Herkunft, mit dieser Geschichte verstrickt und dürfen den legitimen Anspruch haben, in der Wahrheit zu leben und nicht in einer falschen Erzählung.
Die Serie habe ich 2014 begonnen, in der Zeit, als auch Black Lives Matter zu einer sozialen Bewegung wurde. Eric Garner wurde damals in Staten Island ermordet. An seinen Satz «I can’t breathe» werden sich wohl viele noch erinnern. Mike Ben Peter Amadasum wurde 2018 in Lausanne von sechs Polizisten wie Eric Garner auf den Boden gedrückt, bis er starb. Derzeit arbeite ich neben seinem auch an den Porträts von Roger Nzoy Wilhelm und Hervé Bondembe Mandundu, die auch von der Polizei in der Schweiz getötet wurden. Bei meinen Arbeiten versuche ich, mit den Hinterbliebenen in Kontakt zu treten, um ihnen das Bild zu schenken, oder ihnen den Erlös aus dem Verkauf zu spenden, als Unterstützung an die Anwaltskosten, um vor Gericht gegen die Polizisten zu klagen.
Ja, aber nicht nur, Die Serie ist auch Opfern von politischen Tötungen gewidmet. Durch diese Arbeiten entsteht für mich und andere durch den Austausch und die vielen Begegnungen eine wirkliche Verbundenheit. Ein Netz. Manchmal mit unglaublichen Zufällen. Ich wollte der Mutter von Eric Garner das Porträt ihres Sohnes schenken, nur konnte sie mir niemand, den ich kannte, vorstellen. Zur Vernissage einer Ausstellung auf Staten Island lud ich auch Renty Taylor’s Nachfahrin Tamara Lanier ein. Zusammen mit dem Bürgerrechtsanwalt Benjamin Crump verklagt sie zurzeit die Universtität Harvard, wo sie um Wiedergutmachungen sowie um die Herausgabe der Bilder von Renty Taylor und seiner Tochter Delia kämpft. Sie teilte mir mit, sie käme mit einer Freundin. Es stellte sich heraus, dass die Freundin die Mutter von Eric Garner ist.
Sasha Huber ist bildende Künstlerin und Forscherin mit schweizerisch-haitianischer Herkunft, die 1975 in Zürich geboren wurde. Sie lebt und arbeitet in Helsinki, Finnland.
Laura Arminda Kingsley hat das Kurator*innenteam des Kunsthauses beraten und wirkt als Künstlerin und Vermittlerin in der Ausstellung selbst mit. Sie gibt einen Einblick in die partizipative Schau.
Ich erhoffe mir, dass sich alle Personen von der Ausstellung angesprochen fühlen und erkennen können, wie sie Teil der Lösung sein könnten. Denn von Rassismus sind alle betroffen, auch jene, die vordergründig nicht als BIPOC rassifiziert sind. Ausgrenzung, Ungerechtigkeit, Stereotypen, das sind Mechanismen in einer Gesellschaft, unter denen Menschen direkt und indirekt leiden.
In der Mitte der Ausstellung haben wir einen partizipativen Raum eingerichtet, in dem sich die Besuchenden kreativ an der Ausstellung beteiligen können. So können Sie beispielsweise ein Selbstporträt zu einem grossen Gemeinschaftsporträt beitragen, das unter dem Titel «Schön bist du da» läuft. In diesem Titel schwingt eine mehrdeutige Willkommensgeste mit, eine Einladung, gemeinsam Schritte zu einem rassismusfreien Bewusstsein zu machen. In einem anderen Bereich kann man sich in mehreren Sprachen der gesellschaftlichen Frage nach einem guten Zusammenleben stellen und seine Gedanken zeichnerisch und schriftlich mitteilen. Zudem haben wir einen antirassistischen Leseraum eingerichtet, der auch ohne Eintritt zugänglich ist und eine breite Auswahl von Fachliteratur zum Thema bis hin zu illustrierten Büchern für alle Altersgruppen bietet.
Mit der Keramikskulptur «Murmurs of the Deep/ I remember being you» hinterfrage ich anthropologische Definitionen, die durch den Kolonialismus verbreitet wurden. Die Skulptur ist eine nicht-hierarchische Betrachtung unserer Verbindungen zueinander, zu anderen Menschen wie auch zu anderen Lebensformen auf dem Planeten. Es sind Symbole zu erkennen, die mit dem transatlantischen Sklavenhandel zu tun haben, mit meinen bekannten und unbekannten Ahnen, die nach Amerika verschifft wurden. Angelehnt ist die Figur an die Skulpturen der Taìno, den Ureinwohner*innen der Dominikanischen Republik. Ihre religiösen Figuren umfassten oft mehrere Aspekte: eine Brust, ein Fluss, ein Gesicht, ein Berg – alles in einer Form. Auch bei meiner Skulptur wird man je nach Blickwinkel verschiedene Lebensformen und Landschaften entdecken können.
Weil das Thema Rassismus sehr komplex und intersektional ist, ging es darum, mit dem Advisory Board die vielen verschiedenen Stimmen und Perspektiven einzubringen. Konkret brachten wir uns in den Fragen nach der Adressierung der Besuchenden ein. Wie sprechen wir über die Kunstwerke, wie kontextualisieren wir sie. Es ging viel um Sprache. Auch wie wir damit umgehen, dass der Fokus stark auf antischwarzem Rassismus liegt und die Ausgrenzung anderer benachteiligter Gruppen nicht direkt angesprochen wird. Wir hätten eine viel grössere Ausstellung machen können. Ausgangspunkt war aber das Werk von James Baldwin und seine Erfahrungen als Afroamerikaner in der Schweiz. Das ist ein Anfang einer Auseinandersetzung, die sich auf mehreren Ebenen und in anderen Kontexten hoffentlich fortsetzen wird.
Laura Arminda Kingsley ist Künstlerin und Vermittlerin. Sie wurde 1984 als Tochter dominikanischer Eltern in den USA geboren. Sie studierte Fine Arts in New York und Kalifornien. Heute lebt und arbeitet sie in Dübendorf ZH.
KOMMENTAR Ausgangspunkt der Ausstellung «Stranger in the Village» ist der gleichnamige Text des weltberühmten US-amerikanischen Schriftstellers James Baldwin (1924–1987). Baldwin hält sich Anfang der Fünfzigerjahre für einige Monate im Schweizer Dorf Leukerbad im Wallis auf. Während er sich dorthin zum Schreiben seines Romandebüts zurückzieht, wird er von den Einwohner*innen und deren Kindern mit «Erstaunen, Neugier, Belustigung oder auch Entrüstung» empfangen. Wie von ihm selbst beschrieben, wird er als «lebendes Wunder» begrüsst und sogar mit dem «N-Wort» bezeichnet. Die Reaktionen der Einheimischen machen ihm bewusst, dass afro-deszendente Personen immer noch ungerechterweise als Entdeckungen behandelt werden können. Das erinnert ihn an die gewaltvolle Geschichte seiner afrikanischen Vorfahren, die über den Atlantik verschleppt und jahrhundertelang versklavt wurden. Aufgrund dessen wird der afroamerikanische und homosexuelle Intellektuelle zu einem «Fremden» gemacht. Baldwin verarbeitet diese Erfahrung in seinem Essay «Stranger in the Village» (1953, Harper’s Magazine), in dem er den erlebten Alltagsrassismus analysiert. Es führt ihn dann zu einer umfassenderen Reflexion über rassistische Diskriminierung in seinem Heimatland, den USA.
Baldwins Worte sind bis heute Inspiration für viele Kunstschaffende. Wie reagieren wir darauf heute, in der Schweiz? In einer Zeit, in der das Bewusstsein für soziale und strukturelle Ungerechtigkeiten wächst, möchte das Aargauer Kunsthaus Rassismus auch in der Kunst und in der Institution Museum thematisieren. Aus diesem Grund haben wir uns für eine Ausstellung entschieden, die eine Vielzahl aktueller Kunstwerke von über 40 Kunstschaffenden aus der Schweiz und der internationalen Szene vereint. Dazu gehören zum Beispiel Kader Attia, Omar Ba, James Bantone, Denise Bertschi, Marlene Dumas, Sasha Huber, Pierre Koralnik, Glenn Ligon, Uriel Orlow, Ceylan Öztrük und viele andere.
Die Ausstellung hat im Aargauer Kunsthaus einen Prozess in Gang gesetzt, in dem wir uns mit unseren Werten, Methoden und der Diversität innerhalb des Museums auseinandersetzen und noch ganz am Anfang stehen: Wer gehört zu den Mitarbeitenden? Wie arbeitet das Team zusammen und welche Auswirkungen hat dies auf das Programm? Welches Publikum fühlt sich angesprochen? Wer fühlt sich ausgeschlossen? Welche Werke haben wir in unseren Sammlungen? Was wird (noch) nicht gesammelt? Welche Themen werden in den Ausstellungen behandelt, welche nicht? Wie, wo können wir mit der «Dekolonisierung» unseres Blicks beginnen? Das gesamte Kunsthausteam besuchte antirassistische Workshops und die Ausstellung wurde durch ein Advisory Board (beratendes Komitee) aus Kunstschaffenden und Expert*innen begleitet. Rassismus ist Teil eines kollektiven Systems und hat eine strukturelle Dimension. Auf der Grundlage von westlichen Theorien über die menschliche «Rasse» – die wissenschaftlich völlig unbegründet und längst widerlegt sind – haben wir alle gelernt, rassistisch, d.h. irrational zu denken. Das «imaginäre Museum», das wir in unseren Köpfen aufgebaut haben, basiert auf einer visuellen Kultur, die von Schulbüchern, Werbespots und zahlreichen Filmen genährt wird, welche noch lange nach der Abschaffung der Sklaverei koloniale Denkmuster reproduziert. Wir müssen uns dessen erst bewusst werden, um einen Prozess der Dekonstruktion und des Entlernens zu beginnen. Mit dieser Perspektive möchten wir die Besucher*innen der Ausstellung «Stranger in the Village» begrüssen: Es geht nicht darum, sich gegenseitig zu beschuldigen oder neue Kategorien zu schaffen. Vielmehr geht es darum, aufzuzeigen, dass Rassismus oft noch unbewusst ist oder wenig erkannt wird, und darum, dass es immer noch viel Schweigen und viele grosse Missverständnisse rund um das Thema gibt. Die Ausstellung «Stranger in the Village» ist eine Aufforderung, ein Tabu zu brechen. Die Frage lautet also weniger «bin ich rassistisch?» als vielmehr «wie kann ich meinen individuellen Rassismus abbauen?».
Céline Eidenbenz ist promovierte Kunsthistorikerin und Kuratorin am Aargauer Kunsthaus
AARAU Aargauer Kunsthaus, 2. September, 18 Uhr (Vernissage), bis 7. Januar