«Wo ist jetzt die Liebe?»

Interview
Michael Hunziker

«Während Männer im Krieg sind, führen Frauen den Alltag weiter, ziehen die Kinder gross. Dabei haben sie eine Sorge, mit der sie allein klarzukommen haben. Unser Stück ist ihnen gewidmet»: Tatjana Werik.

Die beiden Schauspielerinnen Tatjana Werik und Vivianne Mösli wollten einen Theaterabend mit russischen und ukrainischen Liebesliedern machen. Doch dann brach der Krieg in der Ukraine aus und zerstörte ihre Pläne. Nun ist mit «Der Himmel brennt»ein Stück entstanden, in dem sie ihre Erfahrungen verarbeiten und den Raum öffnen für verschiedene Frauenstimmen, die vom Krieg berichten. Wir trafen die beiden zu einem Gespräch über die Liebe in Zeiten des Krieges und das Theater als Ort der Hoffnung.

Als Freundinnen und Schwägerinnen habt ihr zusammen einen Theaterabend geplant. Dann ist in der Ukraine-Krieg ausgebrochen und euer Vorhaben war auf einmal nicht mehr denkbar...

Tatjana Werik: Wir wollten eine Geschichte aus russischen Romanzen und ukrainischen Liedern machen. Ein lustiges, philosophisches Musiktheater. Aber mit dem Beginn des Krieges konnte ich kein Stück mehr nur über die Liebe machen. Der Krieg hat sich davor gestellt und alles überschrieben. Der 24.Februar 2022 war eine Zäsur. Wir konnten in Bezug auf unser Stück erstmal gar nicht weiterdenken. Bald kamen wir zum Entschluss, trotzdem etwas zu machen. Mit der Bedingung, dass wir die aktuelle Situation integrieren.

Vivianne Mösli: Nun war die Frage, wie und was. Wir sind beide unterschiedlich betroffen. Tatjana kann im Moment schlicht keine russischen Romanzen singen. Im Stück schwingen unsere Ambivalenzen stark mit. Wir fragen danach, was hätte sein können und auch danach, was jetzt ist, und wir halten uns an das Trotzdem. Wir machen es trotzdem.

TW: Ja. Und die Lieder haben im künstlerischen Sinne irgendwie eine andere Bedeutung bekommen.

Tatjana, du bist in der Ukraine aufgewachsen und hast dort Schauspiel studiert. Die russischen Klassiker gehören zu deiner Bildungsbiografie. Was hat der Krieg mit diesen kulturellen Werken gemacht?

TW: Obwohl die Literatur, die Musik nach wie vor wertvoll sind, kann ich persönlich kaum mehr damit arbeiten. Alles hat eine andere Färbung bekommen. Das ist auch eine Verletzung für mich. Ich habe an diese Kultur geglaubt, sie geliebt und dann hat sie uns so im Stich gelassen, auf eine Art verraten. Die Werte, an die ich geglaubt habe, sind auf einmal verschwunden. Gerade die russischen Romanzen, ihre Message war doch: Egal, was im Leben geschieht, Hauptsache, du glaubst an die Liebe. Und dann plötzlich ... Also, wo ist jetzt die Liebe? Wie können diese Lieder gültig sein, während Krieg und Aggression das Leben vieler Menschen zerstören?

Wenn du dich zurückerinnerst, wann haben die Spannungen begonnen?

TW: Aus meiner persönlichen Erinnerung begann das beim Auflösen der Sowjetunion. Ich erinnere mich, wie wir in der Schule mehrmals eine neue Geschichte gelernt haben. Die sowjetische Geschichte war plötzlich nicht mehr aktuell, dann kam eine andere Geschichte, dann wieder eine andere. Als ich an der Schauspielschule war, war die Stimmung demokratisch, was mich sehr angesprochen hat, obwohl ich mir darunter noch nicht viel vorstellen konnte. Wir hatten ja keine Erfahrung darin. Dann kamen allmählich geschichtsrevisionistische Dokumentationen aus ukrainischen Archiven, etwa über den Holodomor, über die von damaliger Sowjetmacht erzeugte Hungersnot in der Ukraine. Ich habe plötzlich gemerkt, wie viel Gewalt und Unterdrückung hinter der Entstehung der Sowjetunion standen. Das war sehr ernüchternd.

Vivianne, du hast in St.Petersburg Theater studiert. Wie hat sich deine Sicht auf Russland verändert?

VM: Ich war ein halbes Jahr in Petersburg. Das war eine besondere Zeit mit schönen Erlebnissen und Begegnungen. Ich kann das, diese Erinnerungen, nicht mit dem Krieg jetzt zusammenbringen. Dadurch, dass ich Tatjana nahe stehe, führen meine Gedanken jetzt alle in die Ukraine. Es ist schwierig, ein Bild von Russland zu erhalten, weil kaum unabhängige Stimmen zu einem vordringen.

Wie könnt ihr euch als Schauspielerin selbst vor der traumatischen Geschichte schützen?

TW: Da ich unter anderem eine fiktive Figur spiele, entsteht die nötige Distanz, um das Thema zu bearbeiten. Es werden Fragmente meines persönlichen Lebens und von Menschen aus meinem Umfeld in die Produktion einfliessen. Wir lehnen uns ausserdem am Buch «Der Krieg hat kein weibliches Gesicht» von Swetlana Alexijewitsch an und holen viele verschiedene Frauenstimmen ins Stück, was es nochmals universalisiert. Es fällt mir ehrlich gesagt schwer, direkt hinzuschauen ...

VM: ...Ich als nicht direkt Involvierte muss hinschauen, das geht gar nicht anders.

Auch persönliche Bilder werden in eurem Stück zu sehen sein. Etwa von Tatjanas Wohnung, in die sie nicht zurückkehren kann ...

TW: Ja, meine Wohnung befindet sich im okkupierten Gebiet. Ich weiss nicht, ob sie zerstört ist, oder ob jemand dort wohnt. Es ist auch schwierig, etwas zu erfahren. Die Situation ist sehr angespannt. Und gleichzeitig grotesk. Laut meinen Freund*innen erhalten die Angestellten in der Administration, den Spitälern und Schulen gerade den doppelten Lohn. Beide Nationen denken, dass die Leute für sie arbeiten.

Ein wichtiger Themenfokus ist auch die Rolle der Frau im Krieg.

TW: Frauen bleiben zurück oder müssen fliehen, während ihre Söhne, ihre Ehemänner an der Front sind. Die Frauen bleiben mit ihrem Leid, mit ihrem Schmerz im Schatten. Von dieser Rolle erfahren wir nicht viel, in den Medien wird wenig darüber gesprochen. Ich kenne sehr viele Frauen, die hier in der Schweiz als Flüchtlinge leben, ohne ihre Männer, mit Kindern, ohne Unterstützung. Sie müssen viel aushalten. Es gibt viele Frauen, deren Kinder körperliche oder geistige Einschränkungen haben – diese Frauen sind Heldinnen. Während Männer im Krieg sind, führen sie den Alltag weiter, ziehen die Kinder gross. Dabei haben sie eine Sorge, mit der sie allein klarzukommen haben. Unser Stück ist ihnen gewidmet.

«Mir fiel auf, wie nahe in dieser Misere Witz und Ernst liegen.»

Tatjana Werik

VM: Wir wollen die Stimmen der Frauen ins Zentrum rücken. Dabei gehen wir in Tatjanas Welt, zurück zu ihrer Mutter, zu ihrer Oma, und blicken in Chatverläufe mit ihren Freund*innen.

TW: Bei der ganzen Dramatik scheint aber immer wieder Humor auf. In den Gesprächen mit meinen Freund*innen fiel mir auf, wie nahe in dieser Misere Witz und Ernst liegen. Die Ukrainer*innen hatten schon immer einen schwarzen Humor. Damit bin ich aufgewachsen. Er ist wohl eine Überlebensstrategie. Einmal fragte ich eine Freundin, wie es ihr gehe. Sie antwortete, sie mache viel Sport, sie renne mehrmals am Tag in den Keller und wieder hoch. Oder ein Freund fragte mich, wann ich endlich in die Ukraine käme. Ich würde gerade Weltgeschichte verpassen.

VM: In der Oper von Odessa wird beinahe täglich gespielt, obwohl Kulturstätten oft Ziele von russischen Bombardements sind. 

Im Krieg, und auch während der Pandemie, wurde das Theater zu einem wichtigen Ort des zivilen Lebens. Derzeit proben viele Produktionen neue Formen. Das gemeinschaftliche Erlebnis wird in den Vordergrund gerückt, die Zuschauer*innen sitzen mit auf der Bühne, es werden Begegnungen geschaffen...

VM: Ja, es gibt bei uns auch Tische, an denen die Zuschauer*innen sitzen können, es gibt Sonnenblumenkerne, Kaffee, die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum ist aufgehoben. Ich glaube aber, das Theater leidet auch an der Fragmentierung unserer Gesellschaft. Es steckt in einer schwierigen Zeit, und trotzdem will ich daran glauben, weil es doch ein einmaliger kultureller Raum ist. Der Dramaturg Julian Pörksen hat mal geschrieben, das Theater sei ein so besonderer Ort, weil man in eine andere Zeitblase fallen kann. Das finde ich schön und wichtig. Und dass Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten für einen Moment zusammenkommen und etwas gemeinsam erleben. Eine geschenkte Zeit.

TW: Ich habe in der Schauspielschule gelernt, dass Theater der Vergrösserungsspiegel der Gesellschaft ist. Und ich finde, das passt. Es verschmelzen sich gerade viele Bereiche, das Theater wird multidisziplinär. Es geht mit der Gesellschaft mit und bisweilen hoffentlich etwas voraus. Mit dem Theater erweitern wir Menschen, die Grenzen unseres Bewusstseins.

Und für dich als Schauspielerin, hilft dir das Theater mit der Ohnmacht umzugehen?

TW: Vielleicht. Für mich ist es jedes Mal schwer, mit meinen Freund*innen am Telefon zu sprechen, weil ich sie schützen möchte und gleichzeitig nichts für sie tun kann. Ich habe allen angeboten, hier zu uns zu kommen. Aber die Menschen können nicht einfach weg. Die Kinder haben Freund*innen, ein Umfeld, die Älteren sind auf Pflege und Betreuung angewiesen, und wer würde für die Haustiere schauen? Sie bedanken sich bei mir dafür, dass ich sie in die Schweiz einlade und erzählen mir dann, warum sie doch lieber in der Ukraine bleiben. Ich möchte, dass man ihre Geschichten hört. Vorurteilsfrei einfach hören und wahrnehmen. Das ermöglicht mir das Theater. Und dann können alle für sich entscheiden, wie sie damit umgehen.

TATJANA WERIK (*1976)

ist in der Ukraine geboren und kam vor 23 Jahren in die Schweiz. Sie studierte in Dnipro Schauspiel und in Bern Interkulturelles Dolmetschen sowie Film und Audiovisual Design. Sie arbeitet als freie Schauspielerin, Dolmetscherin und Pädagogin.

VIVIANNE MÖSLI (*1975)

ist in Cambridge (GB) geboren und bei Bern aufgewachsen. Sie studierte Schauspiel in Zürich. Als freie Schauspielerin macht sie u.a. klassisches Schauspiel, Kinder-und Jugendtheater sowie Figurentheater. Die beiden kennen sich seit 23 Jahren und sind Mitglieder des collectif barbare.

DER HIMMEL BRENNT

Die vom collectif barbare unter der Regie von Astride Schläfli inszenierte Produktion ist eine Musik-, Text und Bildkomposition um Liebe, Leid, Flucht und die Traumata der Mütter. Und um die tröstliche Erfahrung, dass man sich die Schönheit angesichts des Grauens bewahren kann. Ab 16 Jahren. mh

AARAU Alte Reithalle, Sa / So, 2./3. Dezember, 20 / 17 Uhr, Mi/ Do, 6. / 7. Dezember, 20 Uhr

«Wir fragen danach, was hätte sein können und auch danach, was jetzt ist, und wir halten uns an das Trotzdem. Wir machen es trotzdem»: Vivianne Mösli.